Verfallen
dumme Gedanken. Ich will das natürlich keineswegs rechtfertigen, aber …«
»Dumme Gedanken? Das nennen Sie dumme Gedanken? Entschuldigung, aber das scheint mir doch ein bisschen untertrieben! Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, aber ich wohne zurzeit in diesem Haus. Zwar ist es tagsüber passiert, als niemand zu Hause war, aber stellen Sie sich vor, die kommen nachts wieder? Das Haus ist weit abgelegen. Ich fühle mich bedroht.«
Doch Chevalier hat keine Lust mehr, sich mit mir auseinanderzusetzen. Er scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein.
»Warum nehmen Sie meine Anzeige nicht ernst? Heute Vormittag wurde in ein Haus in Ihrem Amtsbezirk eingebrochen!«
»Eingebrochen? Vorläufig betrachte ich die Sache als einen Fall von Vandalismus, und so behandle ich ihn auch.« Plötzlich wirkt er noch erschöpfter als zuvor und fährt mit leiser Stimme fort: »Jetzt hören Sie mir mal zu, Mademoiselle. Wir ermitteln momentan in einem Mordfall. Es geht um ein Ehepaar, das zwei kleine Kinder hinterlässt. Angesehene Leute, die keiner Fliege je etwas zuleide getan haben. Der Mann wurde in seinem eigenen Haus brutal ermordet, keine zehn Kilometer von hier.« Chevalier atmet tief durch und blickt zu Boden. »Sie wurde zwei Tage später gefunden. Im Wald. Abgeknallt wie ein wildes Tier. Wie sich herausstellte, war sie im vierten Monat schwanger.« Noch immer sieht er mich nicht an. Ein tiefer Seufzer. »Für mich ist das die grausamste Tat in meiner ganzen Laufbahn, ein düsteres Kapitel in der Geschichte unseres Dorfes. Also kommen Sie mir nicht mit einer zerbrochenen Scheibe.«
Er fasst mich am Oberarm und drängt mich auf den Flur. Ein Polizist kommt uns entgegen, sieht aber weg.
»Wenn Sie sich wegen des Vorfalls nicht mehr sicher fühlen, schaffen Sie sich eine Dose Pfefferspray an. Die bekommen Sie für unter zehn Euro beim Chasse & Pêche im Einkaufszentrum außerhalb der Stadt. Dabei muss ich es wirklich bewenden lassen. Au revoir, mademoiselle. «
19
Dianne hatte den Besitzer des Tante-Emma-Ladens äußerst treffend als Zwillingsbruder von Salman Rushdie charakterisiert. Er bemerkte mich gleich beim Hereinkommen: ein kleines Mädchen, das ohne Begleitung und während der Schulzeit an den Regalen entlangschlich. Unentwegt beäugte er mich mit schiefem Blick.
Ich hatte mir eine Tüte Käsechips ausgesucht und dazu ein Caramac, weil ich dem Geruch von Karamell und Milchpulver, der mir im Vorübergehen in die Nase stieg, nicht widerstehen konnte.
Salman packte meine Einkäufe quälend langsam in eine Tüte und gab mir Wechselgeld heraus. Dann beugte er sich an der Kasse vorbei zu mir. »Sag mal, müsstest du nicht in der Schule sein?«
Ich wich einen Schritt zurück und traute mich nicht zu antworten. Als ich endlich draußen stand, klopfte mir das Herz bis zum Hals.
Halb rennend, halb hüpfend huschte ich wieder in den Feuerschutzgang hinein, meine Beute in der Plastiktüte hin und her schwingend. Ich eilte an den Betonmauern und gestutzten Ligusterhecken entlang, und mit jedem Schritt wuchs die Reue über meine unbesonnene Tat. Je eher ich zu Hause ankam, desto geringer war die Gefahr, dass mich jemand sehen und später meine Mutter daraufhin ansprechen würde.
Sie war jedenfalls noch nicht zu Hause. Ihr Fahrrad stand weder im Garten noch vor der Tür.
Etwas war jedoch anders. Neben der Haustür stand ein Kasten mit Milch und Pudding in Flaschen. Dazwischen steckte eine handgeschriebene Rechnung des Milchmanns.
Ich achtete weiter nicht darauf und stieß mit der Schulter gegen die Tür.
Au!
Ich drückte, jetzt mit beiden Händen.
Die Tür gab nicht nach.
Ich drehte am Knauf, drückte nochmals gegen das dunkelblau lackierte Holz, diesmal heftig und wütend, obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Ich stemmte mich mit der Hüfte und sogar mit der Stirn dagegen, so fest, dass es schmerzte.
Nichts.
Jemand hatte die Haustür zugezogen.
20
Ich glaube eher, dass Chevalier mich beruhigen wollte. Wahrscheinlich hat er seinen Rat, dass ich mich bewaffnen solle, nicht ernst gemeint, aber ich befolge ihn dennoch. Dränge tatsächlich jemand in böser Absicht ins Haus ein, würde mich kein Mensch schreien hören.
Niemand sollte ganz allein in so einem Haus wohnen, jedenfalls nicht ohne ein Rudel scharfer Wachhunde und eine moderne Alarmanlage.
Ich begnüge mich vorerst mit einer Dose Pfefferspray.
Denn ich bleibe. Mein Entschluss steht fest. Angenommen, Dianne ist nicht bei Freunden und auch
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