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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Charakter.
    So dachte ich jedenfalls über ihn. Dianne war ganz anderer Meinung. Sie hatte ihn durch ihre Arbeit kennengelernt – er sprach bereits drei Fremdsprachen fließend, als er sie engagierte, um ihm zu Hause Privatunterricht in französischer Konversation zu erteilen. Es war Liebe auf den ersten Blick, eine Liebe, die an Anbetung grenzte. Oder Verrücktheit, was mich angeht. Un amour fou.
    Dianne trank förmlich die Worte, die aus seinem Mund kamen. Alles, was er sagte, fand sie tiefschürfend und weise. Es gab kein Problem auf der Welt, für das Hugo Sanders keine fertige, wenn auch durchweg radikale Lösung parat hatte.
    Ich hätte Dianne gerne verstanden und mich für sie gefreut, aber ich konnte es nicht. Insgeheim nannte ich ihn das Orakel von Haren , nach seinem Wohnort, ein schwacher Versuch meinerseits, sein unverkennbares Charisma zu entkräften. Diese Methode ging auf einen meiner Journalistik-Dozenten zurück. Er sagte immer, man brauche einer einflussreichen Person nur lange genug abstruse Spitznamen anzuhängen und ihre Taten und Worte ins Lächerliche zu ziehen, schon verlören sie dadurch einen Teil ihres Zaubers und ihrer Macht.
    Damals hoffte ich, dass es so einfach sein würde. Denn Tatsache war, dass Hugo Einfluss ausübte, großen Einfluss.
    Meine größte Angst war, dass diese Liebe einen Keil zwischen mich und Dianne treiben könne. Zum ersten Mal in meinem Leben befürchtete ich, sie als beste Freundin, große Schwester und Vorbild zu verlieren.
    Und diese Angst war durchaus berechtigt. Es war schockierend mitanzusehen, wie sich Diannes Verhalten durch ihn veränderte. Um ihm zu gefallen, änderte sie sogar ihren Kleidungsstil. Dianne war seit jeher ein bisschen alternativ und »anders« gewesen, was einer der Gründe war, warum sich unsere Freundeskreise nicht überschnitten, doch unter Hugos Einfluss trieb sie es auf die Spitze. Sie trug ausschließlich Springerstiefel, Jeans und bequeme Pullis und schminkte sich so gut wie gar nicht mehr. Wenn wir einmal ausgehen wollten und er rief an, grinste sie bedauernd, sagte: »Tja, Eef … tut mir leid«, und weg war sie.
    Ihn betete sie bedingungslos an, während sie uns anderen gegenüber nur noch ihre schlechten Seiten zeigte. Sie wurde unruhig, reizbarer denn je, suchte ständig Streit und wurde wütend, wenn ich Widerworte gab. Einen Nachmittag zu zweit nett shoppen zu gehen war nicht mehr möglich, Tagesausflüge wurden zur Seltenheit.
    Das waren unter Hugos Einfluss die Nebenwirkungen dieser Beziehung, die ebenso urplötzlich endete, wie sie aufgeflammt war. Drei Monate herrschte der pure Wahnsinn, tobten die Turbulenzen, und danach war es aus und vorbei. Absolute Windstille.
    Sie wollte nicht darüber reden. Ihr einziger Kommentar lautete: »Ich bin fertig mit ihm.«
    Vergangenes Jahr im Dezember ist der Name Hugo Sanders zum letzten Mal gefallen. Eine Woche vor Weihnachten hat sie Schluss gemacht.
    Im Nachhinein betrachtet war es typisch für Dianne, sich mit so viel Leidenschaft in eine Beziehung zu stürzen und dann urplötzlich wieder vollkommen das Interesse zu verlieren.
    In dieser Hinsicht war Hugo und seinen Weisheiten dasselbe Schicksal beschieden wie dem Sponsorenlauf für die Kinder in Mali und dem umfangreichen Œuvre von Jean de La Fontaine.
    Das Orakel von Haren hat sich keinen Deut verändert. Neu sind höchstens die Billigklamotten, die aus einem Militaria-Laden zu stammen scheinen und vor Schmutz starren. Geblieben sind seine schrägen Augen, in denen stets ein boshafter, vorwurfsvoller Blick lauert, und die magere, krumme Nase. Dazu lässt er sich jetzt einen grau melierten Vollbart stehen, der nahtlos in seine millimeterkurzen Haare übergeht. Hugo ist Ende dreißig, um einiges älter als Dianne.
    »Ich wusste gar nicht, dass du in Frankreich lebst«, sage ich, nachdem ich mich von meiner Sprachlosigkeit erholt habe. Wenn ich eine Veranlagung zum Erröten hätte, wäre ich puterrot angelaufen.
    Demonstrativ verschränkt er die Arme. Die Ärmel seiner Jacke sind aufgekrempelt und entblößen behaarte, sehnige Handgelenke. »Ach, nein?«
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, woher denn?«
    Seine Augen funkeln merkwürdig. »Und du, Eva, was machst du hier? Zu dieser Jahreszeit.«
    »Ich bin bei Dianne zu Besuch.«
    Ungläubig starrt er mich an. »Zu Besuch ?«
    Er blickt den Waffenhändler an, der mit einer hilflosen Geste antwortet – schließlich versteht er kein Wort von unserer Unterhaltung –, und dann wieder

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