Verfallen
mich.
»Ich habe Dianne aber noch nicht gesprochen«, fahre ich fort. »Sie ist nicht da. Und ehrlich gesagt kommt mir das ziemlich merkwürdig vor.« Dir hier zu begegnen finde ich übrigens auch ziemlich merkwürdig, füge ich im Stillen hinzu. Doch ich habe zu großen Respekt vor ihm, um es laut auszusprechen.
Ich versuche, in seinem Gesicht zu lesen, erkenne aber nur, dass er gereizt ist – sein natürlicher Gemütszustand.
Leise frage ich: »Weißt du, wo sie ist?«
»Warum fragst du mich das?«
»Warum nicht? Ist doch eine ganz normale Frage, oder?«
Er scheint nachzudenken. Kaut nervös auf seiner Wange herum. »Kann schon sein, aber mich verarschst du nicht, Eva Lambregts.« Er dreht sich um und marschiert davon, verschwindet in der Küche. Ich höre eine Tür knallen.
Die Tüte an mich gepresst, verlasse ich eilends das Geschäft. Ich laufe zwischen den historischen Gebäuden hindurch, über Treppen und durch Gässchen zurück zum Parkplatz. Erst dann blicke ich mich um. Ich sehe umherwandernde Studenten mit Rucksäcken und einige Geschäftsleute, die rauchend vor einem Gebäude stehen.
Hugo ist mir nicht gefolgt.
Ich steige in mein Auto, lasse aber den Motor nicht an. Zitternd bleibe ich sitzen, die Hände am Lenkrad. Ich fühle mich nicht imstande loszufahren. Noch nicht. Ich würde sofort einen Unfall verursachen.
Meine heftige Reaktion erstaunt mich. Wo rührt sie her? Und was macht Hugo hier – nota bene in einem Waffengeschäft? Übersehe ich irgendetwas? Was soll ich tun? Kann ich etwas tun?
In einem kleinen Park neben dem Parkplatz spielen Rentner Pétanque. Sie tragen Schirmmützen und Winterjacken. Zwei Männer sitzen auf einer Bank neben dem Spielfeld und geben Anweisungen. Ein paar Meter weiter trippeln Stadttauben herum.
Das entschleunigte Schauspiel beruhigt mich ein wenig. Allmählich ebbt die Panik ab, aber die Fragen bleiben zurück wie angespültes Treibholz.
Als ich Hugo gefragt habe, ob er hier wohnt, hat er es nicht verneint. Ich kann also davon ausgehen, dass ich recht habe. Doch warum ist er emigriert? Ob er den ganzen Weg nach Le Paradis auf sich genommen hat, um Dianne zu belästigen? Ist das Orakel von Haren in Wirklichkeit ein grenzüberschreitender Stalker? Oder sind Dianne und Hugo wieder ein Paar? Aber warum weiß er dann nicht, wo Dianne ist? Und warum hat mir Dianne nichts davon erzählt? Und wie hängt das alles mit seiner merkwürdigen Reaktion zusammen? Was hat er gesagt? »Mich verarschst du nicht, Eva Lambregts.«
Mein Handy summt plötzlich. Vor Schreck stoße ich mich an der Kopfstütze. Ich habe eine SMS bekommen.
HEY, HÜBSCHES DING, WIE GEHT’S DIR DA UNTEN?
ICH VERMISSE DICH, LANGWEILE MICH ZU TODE
X-CHEN ER
Soll ich Erwin anrufen? Ich bin gespannt, was er von der Sache hält, denn ich weiß überhaupt nicht mehr, woran ich bin. Erwin dagegen ist ein Außenstehender und hat weder Hugo noch Dianne je kennengelernt.
Vielleicht hat Erwin Lust, hierherzukommen? Ich kann nicht leugnen, dass ich mich nach zwei Nächten in diesem gottverlassenen Haus geradezu danach sehne, mich an seinen warmen Männerkörper zu schmiegen und nicht mehr so allein zu sein.
Aber angenommen, Dianne kommt heute Abend nach Hause oder ist sogar schon längst da? Dann hätte ich ihn umsonst aufgescheucht und hergelockt.
Endlich, nach minutenlangem Zweifeln, beginne ich zu tippen. Mir zittern noch immer die Finger.
ALLES OK, VERMISSE DICH AUCH, HALTE DURCH ;))
WIR SEHEN UNS IN 2 WOCHEN X
23
Meine Mutter würde jeden Moment auf ihrem Fahrrad um die Straßenecke biegen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn sie mich im Vorgarten stehen sah, in der Winterjacke und mit einer Plastiktüte in der Hand. Erst würde sie erschrecken, zu mir eilen und vor mir in die Hocke gehen: »Was ist denn los? Was machst du denn hier draußen, Schatz? Was ist passiert?«
Doch dann käme das dicke Ende.
Ich hatte ihr Vertrauen missbraucht. Ich hatte Fieber vorgetäuscht und mich aus dem Haus geschlichen, um Knabbereien zu kaufen.
Ich war ein böses Kind.
Ein verlogenes, böses Kind.
Dianne machte öfter solche Sachen. Sie bekomme ja doch nie Ärger, pflegte sie zu sagen, denn ihre Mutter sei sowieso nie zu Hause. Was machte es also aus?
Sie hatte nicht das Gefühl, ein böses Kind zu sein.
Ich ging um das Haus herum in den Garten. Am Zaun stand eine Bank. Darauf setzte ich mich, legte die Tüte neben mich auf das grün lackierte Holz und starrte
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