Verfallen
nämlich keineswegs den Eindruck gemacht, dass er weiß, wo Dianne steckt.
»Weißt du was?«, höre ich Erwin hinter mir sagen. »Hier in der Nähe soll es ein malerisches Dorf mit einer sehr guten Pizzeria geben. Sollen wir dort zu Mittag essen? Wie findest du die Idee?« Er zieht mich in seine Arme und küsst mich ausgiebig auf den Mund. »Und wenn wir nach Hause kommen, machen wir da weiter, wo wir heute Morgen aufgehört haben. Was hältst du davon?«
32
Der Weg zu dem Dorf führt an ausgedehnten Herbstwäldern, Weiden und kahlen Äckern vorbei. Auf den letzten Kilometern schlängelt sich die Straße durch ein lang gezogenes Tal. Selten zuvor habe ich etwas so Schönes gesehen. Vor langer Zeit ist hier ein gewaltiger, über achtzig Meter tiefer Strom geflossen. Die unterschiedlichen Wasserstände sind bis heute an den tiefen Furchen in den Felsen erkennbar, die sich Schwindel erregend hoch über dem Boden entlangziehen. Hier und da wölben sich Ausbuchtungen hervor, felsige Geschwüre, die gefährlich tief über dem Asphalt hängen. Manche Leute haben es gewagt, Häuser unter ihnen zu errichten und dadurch die Kosten für ein Dach gespart.
Tief unter uns, jenseits der Leitplanke, fließt der heutige Fluss sanft plätschernd dahin. Angesichts der zahllosen Kanuvermietungen, an denen wir vorbeikommen, muss es hier im Sommer vor Kanuten nur so wimmeln. Doch jetzt ist niemand auf dem Wasser; die Ufer der Verleihstationen liegen trostlos und verlassen da.
Den Reklameschildern an der Straße entnehmen wir, dass die Höhlen in diesem Tal bereits vor 35 000 Jahren von den ersten Hominiden Westeuropas, den Cro-Magnon-Menschen bewohnt wurden. Der Homo sapiens des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat einige dieser Höhlen zur Besichtigung freigegeben. Die übrigen werden von den Einheimischen dazu benutzt, Wein und Kartoffeln zu lagern.
Unser Ziel, das malerische Dorf, hat zu dieser Jahreszeit wenig zu bieten. Die Flohmärkte und Konzerte, die auf den Plakaten angekündigt werden, haben schon vor ein, zwei Monaten stattgefunden. Die Cafés werden von mürrischen Wirtsleuten betrieben, die schweigend, einen Arm auf die Theke gestützt, fernsehen und uns die meiste Zeit ignorieren.
Mir macht das nichts aus. Wir trinken Espresso und ein Bier, spazieren Hand in Hand am Wasser entlang und unterhalten uns über Gott und die Welt.
Die Dämmerung bricht schon herein. Erwin steht oben unter der Dusche, und ich räume die Einkäufe weg. Entweder esse ich hier mehr als in den Niederlanden, oder ich kaufe zu viel ein, weil der Supermarkt nicht gleich nebenan liegt. Ich schalte das Licht im Wohnzimmer und in der Küche ein und gehe zum Gasherd, um Kaffeewasser aufzusetzen.
Da klopft jemand an die Hintertür. In der blitzsauberen neuen Glasscheibe sehe ich nur mein eigenes Spiegelbild, von Kopf bis Fuß, die brennende Glühbirne über dem Kopf. Dann erst entdecke ich Beine in blauer Uniform. In einem Lederholster steckt eine Pistole.
Ich drehe den Schlüssel um und öffne die Tür.
Chevalier wirkt um einiges fitter und ausgeschlafener als bei unserer letzten Begegnung. Sie liegt erst zwei Tage zurück, obwohl es mir viel länger vorkommt. Am Dienstag habe ich den hiesigen Arm des Gesetzes noch auf Anfang vierzig geschätzt, dabei ist er vermutlich nicht viel älter als fünfunddreißig.
Wir schütteln uns die Hand, aber ich bleibe absichtlich in der Tür stehen und bitte ihn nicht herein.
Doch Chevalier stört sich nicht daran, drängt sich an mir vorbei und nickt mir dabei gespielt freundlich zu, als danke er mir für meine Gastfreundlichkeit. Seine Größe wirkt imponierend. Er ist noch größer als Erwin, bestimmt einen Meter neunzig.
Etwas eingeschüchtert trete ich beiseite.
»Mein Kollege hat mir von der Katze erzählt. Es tut mir leid für Sie.«
»Danke.«
Er geht ein paar Schritte in die Küche hinein und dreht sich zu mir um. »Es überrascht mich, dass Sie diese Sache nicht zur Anzeige gebracht haben. Sie müssen sich doch gehörig erschreckt haben.«
»Das ist nicht mein Haus«, antworte ich bedächtig. »Ich halte es für besser, wenn meine Freundin entscheidet, was unternommen werden soll, sobald sie wieder da ist.«
»Ah. Natürlich. Gut, gut.« Chevalier fasst einen Stuhl an der Lehne und dreht ihn herum. Die Beine schrammen über den Fliesenboden. Er setzt sich und stapelt das Wochenblatt und die Zeitschriften, die auf dem Tisch verteilt liegen, ordentlich übereinander.
»Wollen Sie sich nicht
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