Verfallen
für diese Jahreszeit, besonders zu dieser frühen Stunde – es ist erst halb elf. Warm ist es nicht, aber zumindest trocken, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft wölbt sich der Himmel strahlend blau so weit das Auge reicht. In der Ferne leuchten gelbe Baumkronen auf wie glänzendes Blattgold.
Erwin hat es geschafft, mich durch seine Fröhlichkeit und seine nüchterne Sichtweise wieder aus der gedrückten Stimmung herauszureißen, in der Chevalier mich gestern zurückließ. Er vermittelt mir das Gefühl, nicht mehr alles selbst erledigen zu müssen, sondern auch auf seine Überlegungen und seine Hilfe bauen zu können. Es tut gefährlich gut, nicht mehr so allein dazustehen.
In den Niederlanden dümpelte unsere Beziehung an der Oberfläche herum, ruhig und nicht unangenehm. Hier, mitten in Frankreich, steigen wir dagegen allmählich zu unentdeckten Höhen hinauf, und was ich entdecke, gefällt mir ausnehmend gut.
Ich kann mich nicht erinnern, so richtig in ihn verliebt gewesen zu sein. Aber ich bin es jetzt.
»Scheiße!« Erwins Schrei hallt im Tal wider und scheucht die Stare auf.
Binnen zwei Sekunden bin ich bei ihm im Hangar. Erwin steht neben dem Motorrad. Er hält es am Lenker fest und blickt sich suchend auf dem Boden um.
»Was ist los?«
»Der Ständer ist abgebrochen.«
»Wie kann das denn passiert sein?«
»Keine Ahnung. Ich wollte die Kiste umsetzen, und dabei ist ein Stück abgefallen.«
Mit meiner Schuhspitze zeige ich auf ein Metallteil im Sand. »Das da?«
»Ja.«
»Und jetzt?«
»Jetzt muss ich ihn reparieren lassen. So kann ich nicht mal tanken gehen. Mist, verdammter!« Schimpfend schiebt er die schwere Maschine vorwärts und lehnt sie gegen ein verrostetes Landwirtschaftsgerät. Als er sie loslässt, gerät sie durch ihr Gewicht ins Rutschen, fängt sich dann aber.
»Musst du einen neuen Ständer bestellen?«, frage ich.
»Wahrscheinlich schon. Die Werkstätten werden sicher keinen für diesen Fahrzeugtyp auf Lager haben. Die Kiste ist mindestens fünfzehn Jahre alt.« Er geht in die Hocke, hebt das abgebrochene Metallteil vom Boden auf und hält es gegen den u-förmigen Ständer. »Ob es hier in der Nähe einen Schweißer gibt?«
»Ganz bestimmt. Wir sind hier auf dem Land. Praktisch jeder ist in irgendeiner Form von irgendwelchen großen Maschinen abhängig. Ich geh mal rein und schaue in den Gelben Seiten nach.«
Nach fünf Telefonaten habe ich Glück. Eine Werkstatt am Stadtrand hat einen Schweißer, der meint, das Problem heute noch lösen zu können.
Erwin sitzt am Küchentisch und kneift die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen. »Und?«
»Sie schieben dich dazwischen, wenn du dich vor zwölf Uhr bei ihnen meldest. Die Werkstatt liegt in demselben Gewerbegebiet wie das Restaurant, in dem wir am Mittwoch essen waren.«
Er steht auf, geht ins Wohnzimmer und zieht die Motorradkombi an. »Ich hätte einen zweiten Helm mitnehmen sollen, dann hätten wir zusammen fahren können. Motorradfahren macht wirklich Spaß, Eef, vor allem an einem Tag wie diesem.«
»Soll ich dir mit dem Auto hinterherfahren?«, frage ich, während ich ihm Telefonnummer und Adresse der Werkstatt auf einen Zettel kritzele.
»Ach was. Du hast doch gesagt, die Werkstatt sei in der Nähe des Buffalo Grills?«
»Stimmt, sie soll direkt dahinter liegen.«
»Dann finde ich es schon.« Erwin schiebt den Zettel in eine Reißverschlusstasche am Ärmel, die er sorgfältig zuzieht. Dann setzt er den Helm auf, schnallt ihn fest und zieht die Handschuhe an. »Bis gleich.«
Kaum ist er weg, bereue ich meine Entscheidung hierzubleiben. Die sorglose Energie, die Erwin mitgebracht hat, ist zusammen mit ihm verschwunden. Das Haus fühlt sich wieder ebenso feindselig und verlassen an wie vor seiner Ankunft. Ich wäre doch besser hinter ihm hergefahren. Wer weiß, wie lange das Schweißen dauert. Wir hätten die Zeit nutzen können, um etwas essen oder einkaufen zu gehen oder im McDonald’s meine Mails durchzusehen. Ich hätte Erwin die Altstadt zeigen können und das Waffengeschäft, in dem ich Hugo begegnet bin.
Zu spät.
Ich sehe mich im Wohnzimmer um. Die Sonne, die durch die Fenster scheint, wirft lang gezogene, helle Rechtecke auf den braunen Fliesenboden. Die Sofas stehen nicht mehr gerade an den Wänden wie bei meiner Ankunft, sondern sind schräg dem Ofen zugewandt. Über der Rückenlehne des vorderen hängt meine Jacke. Erwins Turnschuhe und schmutzige Socken liegen unter dem Wohnzimmertisch,
Weitere Kostenlose Bücher