Verfallen
Seite. Aber halte dich, so gut es geht, im Schatten, sodass du vom Haus aus nicht gesehen wirst. Du musst auf die andere Seite der kleinen Mauer gelangen. Kannst du mir folgen?«
Wieder nicke ich.
Sie fasst meine Hand. »Hinter der Mauer führt ein schmaler Weg an einer Felswand entlang nach unten. Folge ihm, bis du zu einer Umgrenzung kommst, einem hohen Zaun. Dort wendest du dich nach rechts und folgst dem Zaun bis zum Eingangstor. Verstanden?«
»Ja.«
»Das Tor ist abgeschlossen, aber eine kleine Durchgangstür daneben ist offen. Geh hindurch, dann nach links und immer weiter am Zaun entlang, bis du dein Auto erreichst. Kannst du dir das merken?«
»Mein Auto?«
»Wiederhole, was ich dir gesagt habe.«
Ich fasse ihre Anweisungen zusammen. »Kommst du nicht mit?«
»Später. Ich muss erst noch etwas erledigen.« Sie drückt die Klinke nach unten und versetzt der Tür einen Stoß mit der Schulter.
Frische Nachtluft weht uns ins Gesicht.
Ich fasse sie am Arm. »Wer sind diese Kerle, Dianne?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nachher. Sieh zu, dass du mit heiler Haut zu Erwin kommst, er ist schon ganz außer sich.«
»Erwin?«
»Ja, er macht sich Sorgen um dich.« Plötzlich nimmt sie mich in die Arme, küsst mich auf die Wange und drückt mich an sich. »Viel Glück, Schwesterchen«, flüstert sie und verschwindet in der Dunkelheit.
39
Langsam und vorsichtig schleiche ich in der von Dianne angegebenen Richtung an der Hauswand entlang. Meine Augen brauchen ein wenig Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch allmählich werden die Konturen der Umgebung deutlicher. Ich hätte schwören können, dass ich im Keller einer Scheune oder eines Bauernhofs gefangen gehalten wurde, doch ich habe mich gründlich geirrt. Ich erkenne einen vornehm aussehenden, dreistöckigen Landsitz mit Freitreppe und zahlreichen Sprossenfenstern mit Klappläden. Das flache Gelände ringsum ist mit feinem hellem Kies bestreut. Eine niedrige Mauer trennt das Grundstück vom Wald.
Mein Atem kondensiert, als ich auf die einzige Laterne zurenne, die ich entdecken kann. Dann springe ich über die Mauer und kämpfe mich einige Meter durch dichtes Gebüsch, bis ich auf die Felswand stoße, die mir Dianne beschrieben hat.
Erst dann bleibe ich stehen, außer Atem, die Handflächen gegen den kalten Stein gelegt.
Ängstlich blicke ich mich zu dem Haus um. Die imposante Fassade wird von Scheinwerfern erleuchtet, die ein weiches Licht auf die Freitreppe, die Steinmauern und eine Kletterpflanze werfen, die auf der rechten Seite fast bis zum Dach reicht. Hinter einigen Fenstern brennt Licht, aber ich kann nicht erkennen, was drinnen vor sich geht. Die Gardinen sind zugezogen.
Ich sehe Dianne nirgends. Ist sie dort irgendwo?
Ich drehe mich um und beginne mit dem Abstieg den Pfad hinunter. Man kann den Boden kaum erkennen; außerhalb des Laternenlichtkreises erhellt nur der Mond die Umgebung und wirft bizarre Schatten auf die Stämme und Zweige der Bäume.
Je weiter hinunter ich gelange, desto dunkler wird es. Die Kronen der Bäume am Hang bilden eine Kuppel, die das Licht vollständig abschirmt. Hätte ich doch nur eine Taschenlampe! Der Untergrund ist trügerisch; zähe Dornenranken, vermutlich Ausläufer der Brombeersträucher, überwuchern den Pfad und zerren an meinen Hosenbeinen. Ich muss achtgeben, dass ich nicht stolpere.
Schritt für Schritt taste ich mich weiter. Die Baumwipfel schließen sich über meinem Kopf. Das Mondlicht dringt nicht mehr bis nach unten durch, und ringsum herrscht Finsternis. Ich werde immer langsamer, bis ich etwas rascheln höre und stocksteif stehen bleibe. Ich starre in das dunkle Loch vor mir. Das Herz klopft mir bis zum Hals.
Ich wage mich keinen Schritt weiter.
Ich spreche mir selbst Mut zu. Es könnte ein Hirsch sein. Ein Kaninchen. Ein Fuchs. Ein Wildschwein. Ich denke an die Zelle, den Keller und die maskierten Kerle und setze mich steifbeinig wieder in Bewegung. Beschleunige meine Schritte, soweit der Untergrund es zulässt. Weg von dem Haus, hinaus in die Freiheit. Doch sosehr es mich auch zur Flucht drängt: Es fühlt sich unnatürlich an, einem erleuchteten Haus den Rücken zuzukehren und einen pechschwarzen Hang hinunter in eine unbekannte Finsternis zu stolpern. Außerdem mache ich mir Sorgen.
Ich kann nur hoffen, dass Dianne weiß, was sie tut, und dass ich sie bald wiedersehen werde. Unversehrt. Was immer auch die Ursache für ihre Schwierigkeiten sein mag, es muss eine plausible
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