Verfallen
mein Gesicht kaum Gefühle verrät. Mein Pokerface, das mir so oft hinderlich ist, kommt mir in dieser Situation zugute.
Chevalier dreht den Stapel wieder um und blättert ruhelos weiter. Auch er ist nervös. Nervöser als ich. In dem Zimmer ist es nicht viel wärmer als draußen, aber ihm treten Schweißperlen auf die Stirn, und unter seinen Achseln zeichnen sich dunkle Flecken ab.
Ich weiß, wonach er sucht.
Und ich weiß auch, dass er es finden wird.
Er erstarrt, als er seinen eigenen Namen liest, den ich heute Morgen auf der letzten Seite hinzugefügt habe – einschließlich seines Berufs und eines Fragezeichens hinter »Aufgaben«.
»Ich frage mich nur, warum«, bemerke ich. »Aus ideologischen Gründen?«
Einen Moment lang steht er da wie versteinert. Dann brüllt er: »Das beweist überhaupt nichts!« Er umklammert den Stapel so fest, dass er knarzt. »Ein Name auf irgendeiner Liste! So ein Quatsch. Kaum zu glauben. Und was willst du jetzt damit? Sollen das vielleicht Beweise sein? Ein Dreck ist das!«
Ich fühle mich ziemlich eingeschüchtert, aber dennoch bleibe ich sitzen. »Wenn die Police nationale nicht weiß, wo sie ansetzen soll, haben die Aufzeichnungen tatsächlich keine große Bedeutung. Aber wenn sie einen Ausgangspunkt hätte, einen Namen zum Beispiel, könnte man viele kleine, scheinbar unbedeutende Elemente miteinander kombinieren, sodass sie plötzlich ein sehr aussagekräftiges Bild ergeben.«
Er schüttelt den Kopf. »Quatsch. Alles Quatsch.«
»Wenn du nichts zu verbergen hast, warum sollte ich dann nicht in die Dienststelle kommen?«
Er sagt nichts mehr, schüttelt nur fortwährend den Kopf und weicht meinem Blick aus. Mehrmals fährt er sich mit den Fingern durch die Haare.
Ich bin mir jetzt ganz sicher. Meine Vermutung war richtig. Wenn Chevalier sich nichts vorzuwerfen hätte, hätte er empört auf meine Anspielungen reagiert oder vielleicht darüber gelacht. Doch er verschanzt sich sofort hinter einem Verteidigungswall.
Augen zu und durch. »Du warst mit dabei in dem Keller. Du hast rechts von der Tür gestanden, während ich verhört wurde. Du hast eine Wildschweinmaske und alte Kleider getragen. Aber ich habe dich an deiner Gestalt erkannt. Und an deinem Gang.«
Chevalier erschrickt sichtlich. Seine hellbraunen Augen blitzen.
Mein Herz schlägt nicht mehr so heftig und unruhig in meiner Brust. Ich spüre, wie ich stärker werde. Und wütender. Schärfer und klarer. Ich hasse diesen Mann. »Ich werde gegen dich aussagen. Ich werde dich als einen der vier Männer identifizieren, die bei diesem Folterverhör anwesend waren. Wie viele Leute auf dieser Liste werden dich sonst noch verraten? Oder glaubst du, dass dich alle decken und die Prügel für dich einkassieren werden?«
Er zieht eine Zigarette aus der Brusttasche, blickt sie an und steckt sie wieder weg. Seine Hand zittert.
»Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was dich dazu bewogen hat, dich einer solchen Bewegung anzuschließen«, fahre ich fort. »Was treibt jemanden dazu, Verbrechen zu begehen, obwohl sein Beruf von ihm verlangt, Menschen zu helfen und sie zu beschützen? Ist es die Ideologie? Bist du so sehr gegen …«
»Ideologie?« Er lacht freudlos und schüttelt den Kopf. Dann zieht er wieder die Zigarette aus der Brusttasche und zündet sie schließlich an. Langsam bläst er den Rauch aus und blickt durch den wirbelnden grauen Nebel zum Fenster. »Du glaubst vielleicht, dass Verbrechen aus vielerlei Gründen verübt werden. Aber da irrst du dich. Letztendlich kann man sie immer wieder auf die gleichen Motive zurückführen: Macht, Geld oder Liebe. So war es schon immer, und so wird es immer bleiben.«
»Und welches war dein Motiv?«
»Wer sagt, dass ich eines hatte?« Plötzlich sieht er mir direkt ins Gesicht. Ich weiß nicht, was den plötzlichen Wandel in seinem Verhalten verursacht hat, aber er beunruhigt mich.
»Na schön«, fährt er fort und zieht an seiner Zigarette. »Geld war einer der Gründe. Diese Leute haben alle irgendwo einen Sparstrumpf. Sachbeschädigung und Einbruch kann man anzeigen, aber wenn Schwarzgeld gestohlen wurde, sieht die Sache anders aus, nicht wahr?«
»Du hast diese Bauern beraubt? Leute aus deinem eigenen Dorf?« Unwillkürlich huscht mein Blick zur Tür.
Er lacht freudlos auf. »Tja. Betrachte es als Bonus. Bei meinem mageren Beamtengehalt kann ich das Geld besser gebrauchen als sie. Bernard Bonnet war reich. Der Mann besaß ausgedehnte Ländereien. Und einen
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