Verfallen
ich nichts erwidere, fährt er fort: »Die Informationen, über die Sie verfügen, sind möglicherweise äußerst brisant. Ich rate Ihnen dringend, niemandem davon zu erzählen. Nicht einmal Ihrem Freund. Kommen Sie allein, dann werden wir sehen, wie wir am besten damit umgehen.«
»Gut«, sage ich. »Treffen wir uns auf dem Parkplatz oder …«
»Seien Sie einfach um Viertel nach vier dort. Ich finde Sie dann schon.«
45
Der Betonkomplex ist von üppig wuchernden Lorbeersträuchern umgeben. Darüber flattert ein Transparent, das die Zimmerpreise verkündet. Die Anlage besteht aus vier dreistöckigen Blöcken mit einem offenen Treppenhaus in der Mitte und erinnert mich an die Billigmotels in amerikanischen Filmen – ein Treffpunkt für flüchtige Verbrecher und Paare, die zwar verheiratet sind, aber nicht miteinander.
In solchen Hotels ist die Rezeption die meiste Zeit unbesetzt. Ankommende Gäste wählen an einem Automaten eines der freien Zimmer aus, bezahlen mit Kreditkarte und erhalten daraufhin ihren Schlüsselcode.
Ich stelle mein Auto in einer Ecke des Parkplatzes ab. Es ist zwanzig nach vier, ich bin spät dran, aber Chevalier ist nirgends zu sehen. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch bis unters Kinn, falte die Plastiktüte, die ich mitgebracht habe, in der Mitte zusammen und warte.
Chevalier kommt zwischen den Gebäuden hindurch auf mich zu. Seine Schritte sind energisch, die Füße dabei leicht nach außen gedreht.
»Bist du allein?« Wieder setzt er sich über gängige Umgangsformen hinweg und duzt mich, wie schon bei unserem Gespräch in Diannes Haus.
»Ja«, antworte ich. »Mein Freund ist im Krankenhaus bei Mademoiselle van den Berg.«
Er scheint mir kaum zuzuhören und blickt sich nervös um. Dann bedeutet er mir mit einem Wink, ihm zu folgen.
Im Treppenhaus gesellt er sich neben mich und fasst mich mit einer Hand am Oberarm. Zu leicht, als dass ich mich beklagen könnte, zu fest, als dass ich mich nicht unbehaglich fühlte. Ich unterdrücke den ängstlichen Impuls, mich loszureißen.
Im dritten Stock betreten wir ein blau-grau ausgestattetes Zimmer mit Aussicht auf das Treppenhaus.
Ich bin schon öfter in billigen Hotels gewesen. Sehr oft sogar. Während meiner Studienzeit war eine günstige Unterkunft die Voraussetzung, um ein Wochenende oder ein paar Tage in einer großen französischen Stadt verbringen zu können. Mein Bruder Dennis bezeichnet solche Hotels als Schlafbunker, und genau daran erinnert auch dieses düstere, nach Zigarettenrauch stinkende Zimmer. Die dichten Gardinen filtern das Licht von draußen. Die Einrichtung besteht aus zwei Einzelbetten mit einem Nachtschränkchen dazwischen und einer an die gegenüberliegende Wand geschraubten Schreibtischplatte.
Das Familienzimmer im Krankenhaus war gemütlicher.
Chevalier zeigt auf den einzigen Stuhl im Zimmer. »Setz dich.« Mit kräftigen Rucken zieht er die Übergardinen zu und schaltet dann das Licht ein.
Ich ziehe den Stuhl unter der Schreibtischplatte hervor – er ist viel schwerer, als er aussieht – und nehme Platz. Auf dem Schreibtisch steht ein Plastikbecher, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist. Zigarettenkippen treiben darin herum.
»Die Liste?« Sein Blick huscht nervös zu der Plastiktüte in meiner Hand.
Ich lege die Tüte auf meinen Schoß, öffne sie und hole einen Stapel Ausdrucke hervor.
»Hast du Kopien davon gemacht?«
»Nein. Ich hatte noch nicht die Möglichkeit.«
Rasch nimmt er mir den Stapel aus der Hand und blättert ihn durch. Sein Diensthemd ist ihm etwas zu eng, es spannt unter seinen Achseln und über der Brust.
»Das ist kein Französisch«, stellt er gereizt fest. »Ich kann das nicht lesen.«
»Das ist Niederländisch.«
Chevalier ist bei der Liste angekommen. Seine Augen huschen über das Papier. Dann dreht er den Stapel um, mit der bedruckten Seite zu mir. Sein Zeigefinger wandert ungeduldig über die rechte Hälfte des Blattes. »Was steht da? Hinter den Namen?«
»Ich glaube, meine Freundin hat die Aufgaben der betreffenden Person protokolliert und alles, was sie sonst über sie in Erfahrung bringen konnte.«
Er wedelt mit dem Stapel. »Weißt du, was das ist? Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«
»Genau weiß ich es nicht, aber ich vermute, dass Dianne zu einer Organisation gehört, deren Ziel es ist, bestimmte Gruppen von Bauern in ganz Europa zu terrorisieren.«
»Entnimmst du das den Texten?«
»Ja.« Meine Hände schwitzen, aber ich weiß, dass
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