Verfallen
als ich einen Plastikbecher mit Kaffee von Godin annehmen will. Schließlich stellt er ihn auf dem Tischchen vor mir ab.
Die ersten Tränen laufen mir über die Wangen. Ich wische sie mit dem Handrücken weg und schniefe. Noch mehr Tränen quellen hervor. Sie hören nicht auf zu fließen. Ich wische sie unablässig weg, erst mit den Händen, dann mit dem Jackenärmel.
Godin schiebt mir ein Paket Papiertaschentücher zu. »Sie haben da gerade etwas Außergewöhnliches geleistet.«
Ich nicke nur. Seine Worte erreichen mich nicht wirklich. Tagelang habe ich mich tapfer gehalten, jetzt kann ich nicht mehr. Ich breche zusammen.
Godin lässt mir Zeit. Er trinkt seinen Kaffee aus und schafft inmitten der euphorischen Hektik einen Kokon der Stille und Ruhe.
Erst nachdem meine Tränenflut nachgelassen hat, fährt er fort. »Ich bin beeindruckt. So eiskalt Theater zu spielen wie Sie, das hätten sicherlich viele unserer erfahrenen Kolleginnen nicht geschafft.«
Ich erschrecke, als er mir die Hand auf den Arm legt. Doch als ich aufblicke, sehe ich die Begeisterung in seinem Gesicht.
Godin betrachtet mich wie einen berühmten Popstar, mit dem er einen Augenblick allein sein darf. »Wir haben Sie als Lockvogel eingesetzt, um einen Polizeibeamten zu überführen, der Extremisten unterstützt. Wovon wir ehrlich gesagt nicht ganz überzeugt waren. Doch jetzt haben wir sogar ein Mordgeständnis auf Band!« Er drückt kurz meinen Unterarm. »Wirklich großartig. Ganz einfach fantastisch!«
Sein Lob macht mich ganz verlegen. Wieder greife ich nach einem Taschentuch und putze mir die Nase. Dann zerknülle ich das feuchte Tuch in meiner Hand zu einem Ball und schaue durchs Fenster. Der Himmel hat sich verdunkelt, und der Wind ist stärker geworden. Das Werbebanner mit den Zimmerpreisen flattert in seinem Aluminiumrahmen hin und her. Ein Sturm zieht auf, oder schwere Regenfälle.
»Es ging um Geld«, sage ich matt.
»Während Sie dort drinnen waren, haben unsere Kollegen sein Haus durchsucht und in einer Luke unter der Garage über fünfundzwanzigtausend Euro gefunden. Es wird ihm schwerfallen, uns zu erklären, wie er daran gekommen ist.«
»Wurden Hugo und Kurt gefunden? Und dieser andere Mann, Laurent?«
»Laurent wurde festgenommen und wird momentan verhört. Hugo und Kurt waren nicht in dem Haus. Zurzeit wird die unmittelbare Umgebung mit Hunden abgesucht, aber ich erwarte nicht viel davon.«
Ich habe Chevalier nicht nur in Bezug auf seinen Namen auf der Liste getäuscht, sondern auch wegen des Hauses belogen. Zwar kannten Erwin und ich seine genaue Lage nicht, aber durch meine detaillierte Beschreibung der Vorderfassade sowie die exakte Entfernung zum Krankenhaus konnte die Polizei es rasch ausfindig machen.
»Die Fahndung nach ihnen läuft. On verra – wir werden sehen.« Godin wirft seinen Kaffeebecher in den Abfalleimer.
Auf dem Parkplatz entsteht Aufruhr, als Chevalier erscheint: gesenkten Hauptes, wie ein gebrochener Mann, flankiert von den Beamten der Police nationale . Er geht mit plumpen, schlenkernden Schritten.
Diese typische Art zu gehen hat ihn verraten, durch sie hatte ich mein Déjà-vu im Keller des Landhauses.
»Manchmal wünschte ich, die Todesstrafe wäre nicht abgeschafft worden«, murmelt Godin.
Chevalier wird in einen geschlossenen Kleinbus bugsiert. Unmittelbar darauf verlässt das Fahrzeug den Parkplatz. Das Trassierband wird aufgerollt, und zwei Polizeifahrzeuge fahren hintereinander weg.
Ich schaue hinauf in den Himmel. Die Dämmerung ist hereingebrochen.
»Brauchen Sie mich noch?«, frage ich.
»Nein, heute nicht mehr. Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten? Einen apéro auf den Schreck? Den haben Sie sich verdient.«
»Nein, vielen Dank.« Ich schnäuze mir die Nase in das letzte Taschentuch aus der Packung. »Ich möchte zurück ins Krankenhaus. Zu meinem Freund und meiner Freundin.«
47
Die Erde unter unseren Füßen fühlte sich feucht, locker und kalt an. Wir standen dicht am Wasser, geschützt von Schilf, Sträuchern und Bäumen. Zwischen den Schilfrohren trieb ein toter Karpfen, steif und glanzlos, mit Augen wie blaugraue Käppchen.
»Hier, Eva«, flüsterte Dianne. »Hier machen wir es.«
Ich blickte mich um. Sie hatte recht. Das war genau die richtige Stelle. Die Wiese war von hier aus nicht mehr zu sehen. Zwar hörten wir noch die Mütter und die kleinen Kinder, aber ihre Stimmen klangen weit weg und undeutlich. Segler und Surfer zeichneten sich als weiße
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