Verfallen
Blutergüsse.« Mit dem Gedanken an Dianne und Erwin füge ich hinzu: » J’ai vraiment eu de la chance – Ich habe wirklich großes Glück gehabt.«
»Aber sicherlich stehen Sie noch unter Schock«, vermutet er. »Es muss eine scheußliche Erfahrung gewesen sein.«
Und ob das scheußlich war, denke ich, doch seltsamerweise belastet es mich nicht. Die Erinnerungen scheinen mit jeder Minute weiter zu verblassen. Schon erscheint mir alles nur noch wie ein Traum oder wie aufwühlende Szenen aus einem Film, den ich einmal gesehen habe. Vielleicht kommt der Schock noch, aber momentan fühle ich mich stark und hellwach.
Ich schweige für einen Moment. Inspektor Chevalier ist der Letzte, mit dem ich über meinen Zustand sprechen möchte.
»Ein komplizierter Fall«, fährt er fort. »Ich habe gehört, dass weder Sie noch Ihr Freund wissen, wo sich das betreffende Haus befindet?«
»Richtig.«
»Nicht einmal so ungefähr?«
»Nein. Ich weiß nur, dass es fünfunddreißig Kilometer vom Krankenhaus in der Stadt entfernt liegt. Und für meinen Freund sehen die Straßen hier alle gleich aus. Er kann sich beim besten Willen nicht mehr an den Weg dorthin erinnern.«
»Und Ihre Freundin? Sie müsste sich doch in der Gegend auskennen.«
»Ihr geht es sehr schlecht. Sie kann noch nicht reden.«
»Das habe ich gehört.« Chevalier schweigt. »Für uns ist so ein Fall frustrierend. Bei so wenigen Hinweisen können wir die Täter kaum ermitteln.«
»Aber Sie kennen sie doch?«
»Zwei von ihnen. Ihren Landsmann Hugo Sanders und seinen deutschen Freund Kurt Wesemann, der möglicherweise erschossen wurde. Aber es waren doch noch weitere Personen beteiligt, oder?«
»Ja, zwei Männer«, antworte ich. »Das habe ich auch Ihren Kollegen gesagt. Einer hat Französisch gesprochen, der andere hat die ganze Zeit kein Wort gesagt.«
»Wissen Sie nicht, wie sie aussehen?«
Ich zögere. Dann sage ich: »Ihre Größe und Statur könnte ich in etwa beschreiben. Aber damit können Ihre Kollegen kaum etwas anfangen, sie bräuchten weitere Informationen.«
»Tja. Es wäre schon sehr nützlich, wenn der Tatort bekannt wäre. Hoffen wir, dass Ihre Freundin bald wieder zu sich kommt.« Er räuspert sich. »Aber weshalb wollten Sie mich eigentlich sprechen?«
»Es geht um Notizen meiner Freundin. Eine Art Tagebuch.«
»Ein Tagebuch?«
»Ja, so ähnlich. Dazu gehört auch eine Liste. Ich habe das Gefühl, die Aufzeichnungen könnten wichtig sein.«
Ich höre Chevalier atmen. Langsam sagt er: »Sie haben ein Tagebuch Ihrer Freundin gefunden und eine Liste.«
»Ja. Sie enthält Namen und Codes, aber ich werde nicht recht schlau daraus.«
Sekundenlang bleibt es still in der Leitung. Ich befürchte schon, dass Chevalier die Verbindung unterbrochen hat, doch dann fragt er: »Konnten die Kollegen von der Police nationale nichts damit anfangen?«
»Ich habe noch nicht mit ihnen darüber geredet. Ich würde das Material gerne zuerst Ihnen vorlegen.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass Sie als Mitglied der Ortspolizei besser als die Landespolizei darüber Bescheid wissen, was sich in der Umgebung Ihres Dorfes abspielt.«
»Ach ja?«
»Aber ehrlich gesagt auch aus eigenem Interesse. Ich möchte erfahren, was meine Freundin angetrieben und womit sie sich beschäftigt hat. Wenn ich die Liste der Landespolizei vorlege, wird sie beschlagnahmt, und dann höre ich wahrscheinlich nie wieder etwas davon. Ich würde sie deshalb vorher gerne mit Ihnen durchgehen. Natürlich nur, falls Sie dazu bereit wären und sich die Zeit nehmen könnten.«
Wieder herrscht einige Sekunden lang Stille. »Wer weiß sonst noch von diesem Tagebuch?«
»Bisher niemand. Ich hielt es für besser, erst …« Ich unterbreche mich. »Was ist das für ein Geräusch? Hört jemand mit?«
»Nein, das kann nicht sein.«
»Gut. Morgen früh muss ich noch einmal bei der Police nationale aussagen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich heute noch mit mir zu treffen?«
»Wo sind Sie jetzt?«
»Im Krankenhaus.«
»Na schön.« Ich höre seinen Kugelschreiber unregelmäßig auf eine harte Oberfläche ticken. Oder sind es seine Fingernägel? »Kennen Sie das B&B-Hotel am Kreisel? Sie kommen daran vorbei, wenn Sie von der Stadt aus in unsere Richtung fahren.«
»Äh, ja, das kenne ich.«
»Können Sie in einer Stunde da sein?«
Ich runzle die Stirn. »In einem Hotel?«
»Ich habe gerade in der Nähe zu tun. Wir sollten uns die lange Fahrt in die Dienststelle ersparen.« Als
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