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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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    Der Mann, der mir gegenübersteht, ist ein noch viel größeres Ungeheuer, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen ausgemalt hätte.
    Denn war er es nicht selbst gewesen, der mir auf der Polizeiwache erzählt hat, die ermordete Frau sei schwanger gewesen? Wie hatte er gleich gesagt? Der grausamste Fall meiner gesamten Laufbahn.
    »Du hast Patricia ermordet? Obwohl sie schwanger von dir war?!« Die Erregung schlägt mir auf die Stimme, ich werde immer heiserer. »Mein Gott! Du hast dein eigenes Kind umgebracht!«
    »Darauf bin ich nicht besonders stolz.« Er tritt an den Schreibtisch und lässt die Kippe in den Plastikbecher fallen. Zischend erlischt die Glut. »Aber manchmal muss man drastische Maßnahmen ergreifen, um größeren Schaden zu verhindern.«
    Als er sich umdreht, hat sich der Blick in seinen Augen verwandelt. Eine Kälte schlummert darin, die ich bis tief in die Knochen spüre.
    Das ist seine wahre Gestalt, geht es mir durch den Kopf. Jetzt blicke ich direkt in seine bernsteinfarbene, eiskalte Seele.
    Sein plötzlicher Stimmungswandel scheint die ganze Umgebung zu beeinflussen. Wie bei einem Druckunterschied klingen die Geräusche von draußen verzerrt, die Wände scheinen jeden Laut zu reflektieren.
    »Und dasselbe muss ich jetzt mir dir tun«, sagt er. »Drastische Maßnahmen ergreifen, um größeren Schaden zu verhindern. Denn wenn diese Liste der Police nationale in die Hände fällt, ist mein Leben zu Ende.« Er geht einen Schritt auf mich zu, und sein Gesichtsausdruck hat jetzt nichts Menschliches mehr.
    Ich springe vom Stuhl auf und blicke voller Panik zur Tür. Draußen höre ich niemanden.
    Warum geschieht nichts?
    Langsam weiche ich zurück. Ich muss versuchen, über das Bett zur Tür zu kommen, es gibt keinen anderen Weg. Ich muss eine Bewegung antäuschen, auf die Matratze springen und dann mit einem großen Sprung …
    »Du bist Polizeibeamter«, flüstere ich. »Das kannst du nicht machen.«
    Ängstlich beobachte ich die Tür. Höre ich etwas auf der Galerie? Ist etwas schiefgelaufen?
    Warum habe ich kein Pfefferspray mitgenommen?
    Bevor ich mich mit einem Sprung retten kann, packt er mich an der Jacke und zerrt mich mit solcher Gewalt zu sich hin, dass er die Jacke und die Strickjacke darunter vorne aufreißt.
    Dabei löst sich das an mein Brustbein geheftete Mikrofon, fällt herunter und baumelt an den Drähten hin und her.
    Mit irrem Blick starrt Chevalier mich an, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen. »Verdammte Sch…«
    In dem Moment wird die Tür aufgebrochen, und das Zimmer explodiert in Fragmenten von Licht und Geschrei.

46
    Kommissar Gérard Godin kümmert sich um mich, legt mir einen Arm um die Schultern, führt mich weg von dem Hotelzimmer und begleitet mich die Treppen hinunter zum Parkplatz.
    Wind ist aufgekommen, und eine gleichmäßig graue Wolkendecke hängt über der Stadt, in der sich die Sonne als fahle, helle Scheibe abzeichnet.
    Unten erwartet uns eine Beamtin, dieselbe, die mich mit dem Sender und dem Mikrofon ausgerüstet hat. Sie lächelt, ja strahlt mich fast an. »Sie waren fantastisch! Einfach großartig!«, lobt sie, und ihre Stimme überschlägt sich fast vor Begeisterung, während sie die Drähte unter meiner Kleidung hervorzieht. »Sie können stolz auf sich sein.«
    Ich nicke ihr zu, halb betäubt, bringe aber kein Wort über die Lippen.
    Um uns herum rennen Polizeibeamte aufgeregt die Treppen hinauf und hinunter. Ich höre blecherne Stimmen aus Walkie-Talkies. Der Wind zerrt an dem Trassierband, mit dem der Parkplatz abgesperrt ist. Einige Polizeifahrzeuge haben das Blaulicht eingeschaltet.
    Ich kann kaum glauben, dass es vorbei ist. Es fühlt sich unwirklich an, als sei ich nicht Teil des Geschehens, sondern schwebe wie ein Geist umher, diffus und schwerelos.
    Godin bringt mich zu einem Polizeitransporter, der nur ein paar Plätze von meinem Auto entfernt steht. Ein uniformierter Kollege öffnet uns rasch die Seitentür.
    »Nach Ihnen«, sagt Godin.
    Ich steige ein und setze mich auf eine der Bänke. Durch die Autoscheiben überblickt man rechts und links den Parkplatz. Das Hotelzimmer ist von hier aus nicht zu sehen, da es sich in der Mitte des Komplexes befindet. Vor der Parkplatzzufahrt haben sich Gaffer gruppiert. Ein Polizist sorgt dafür, dass niemand sich nähert. Doch alle blicken erwartungsvoll hinauf zum dritten Stock des Treppenhauses, in dem jeden Moment Chevalier erscheinen kann.
    Ich merke erst, wie stark ich zittere,

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