Verfault 2 xinxii
neben der Ticketbude, nur fünf Meter von mir entfernt. Ich stürmte auf ihn zu und er blickte mich erschrocken an. Ich riss ihn hoch und drückte ihn so fest an meine Brust. Er sagte irgendetwas, aber ich verstand ihn nicht. Irgendwann ließ ich ihn wieder runter und schaute in ein erstauntes Kindergesicht: »Was ist denn los, Mama?«
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen: »Nichts mein Schatz, nichts. Waren wir in dem Kabinett?«
Sein Erstaunen blieb bestehen: »Nein, wir wollten gerade reingehen. Gehen wir jetzt rein?«
Ich schüttelte fast panisch den Kopf: »Nein, wir gehen nicht rein. Du kannst jede Attraktion besuchen, aber nicht diese hier. Auf keinen Fall!« Außenstehende hätten mich für paranoid oder betrunken gehalten, aber mich störte das nicht. Ich hatte meinen Sohn wieder und wollte nur noch weg. Ich wusste nicht, was genau geschehen war und ich wollte es auch gar nicht wissen. Vielleicht war es ein Nervenzusammenbruch oder sonst was. Der alte Mann saß erstaunlich ruhig in seinem Häuschen und schaute dem Schauspiel zu, das ich ihm hier lieferte. »Madame ist alles wieder in Ordnung?«
Ich antwortete mit einer Gegenfrage: »Haben sie drei alte Spiegel in Ihrem Kabinett? Besondere Spiegel?«
Er lächelte gutmütig: »Nein, meine Spiegel sehen alle aus wie die hier vorne«, er zeigte auf sie. »Warum?«
»Es ist schon gut. Entschuldigen Sie meinen Auftritt, aber ich muss jetzt gehen. Auf Wiedersehen!«
»Es ist alles OK, Sie müssen sich nicht entschuldigen, Madame!«
Ich drehte mich um und ging. Nur weg von hier. Ich hielt Etienne an der Hand und wir gingen erneut zum Zuckerwattestand. Ich wollte kleben, kleben und nochmal kleben! Hauptsache, Etienne war wieder da. Der Verkäufer der Zuckerwatte bemerkte wohl, wie aufgewühlt ich war, und sprach mich an: »Ist etwas passiert?«
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, alles in Ordnung, aber wir waren an diesem Spiegelkabinett und dort habe ich mich irgendwie unwohl gefühlt.«
»Welches Spiegelkabinett?«
»Na dieses Labyrinth aus Spiegeln. Direkt hier um die Ecke!«
»Dort ist kein Spiegelkabinett!«
Ich blickte ihn verdutzt an: »Natürlich ist es dort. Wir waren doch da!«
»Ich reise seit einem Jahr mit dieser Gruppe und glauben Sie mir, es gibt hier auf dem Jahrmarkt kein Spiegellabyrinth!«
Er sah mich an, als wäre ich verrückt und genauso fühlte ich mich in diesem Moment. Ich riss Etienne hinter mir her, bog um die nächste Ecke und schaute auf einen leeren Platz, auf dem nur eine einzelne Bank stand. Keine Spiegel, kein Bude und auch kein alter Mann. Nichts erinnerte mehr an meine schrecklichen Erlebnisse in dem Kabinett, bis auf den kleinen getrockneten Blutstropfen, den ich gerade auf meinem Ehering entdeckt hatte...
WENIG BEQUEMLICHKEIT
Sehnen rissen, Gelenke brachen, Muskeln platzten und Knochen zersplitterten. Dies geschah keineswegs durch einen Unfall, einem Unglück oder äußere Gewalteinwirkung. Nein, es passierte einfach so! Die Biologie des Körpers ist, obwohl noch nicht endgültig erforscht, ein beispielloser Zauber. Wozu sonst ein Beil, ein wild gewordenes Pferd oder ein Sturz aus großer Höhe erforderlich ist, schafft der Organismus dies auch aus eigener Kraft. Das Einzige, das von Nöten ist, ist wenig Bequemlichkeit.
Für mich stellte der »Little Ease« die Krone der Folterwerkzeuge dar. Diese kleinen Kammern unterschiedlichster Größe verrichten ihr Werk ohne Tadel und ohne Hinzufügen menschlicher Anstrengung. Man musste keine Räder kurbeln, um den Schuldigen zu strecken, brauchte nicht endlos an der Mundbirne drehen, bis der Kiefer brach und nicht die schwere eiserne Jungfrau schließen. Nein, es geschah alles von selbst. Welch´ wunderbare Erfindung diese Kammern oder Käfige doch
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