Verfault 2 xinxii
stehen blieben. Es hatte ungefähr einen Durchmesser von einem Meter, war schräg in die Tunneldecke hineingegraben und glich einer Rutsche. Die Luft, die durch den Tunnel hinabströmte und die Kerze des Vorarbeiters zum Flackern brachte, stank genauso so Verwesung, wie alles hier. Unter der Öffnung standen zwei alte Holzkarren, auf deren Ladefläche einige Splitter und Fleischstücke klebten. Yanis wollte nicht genauer hinsehen, aber er wusste auch so, welcher Herkunft diese Stücke waren. Am Ende des Tunnels war ebenfalls das schwache Leuchten einer Fackel auszumachen und kurze Zeit später tönte eine laute Stimme durch den Durchbruch: »Bereit da unten?«
Der Vorarbeiter brüllte aus Leibeskräften in die Deckenöffnung hinein: »Bereit!«
»Fuhre kommt! Danach Wechsel«, lautete die Antwort und Yanis ahnte mit Schrecken, welche Fuhre gleich die Rutsche hinabdonnern würde. Er und der Vorabeiter gingen ein Stück zurück und schauten nach oben. Schon einige Sekunden später verdunkelte sich die Öffnung und ein dröhnendes Poltern war zu vernehmen. Ein Klackern, Pochen und dumpfes Klopfen erschallte von der Rutsche und nur Augenblicke später fielen ein Ensemble menschlicher Überreste krachend auf die Holzkarren. Schädel, Beine, Arme, Hüftknochen, Brustbeine, Rippen, Füße, Hände und alles, was einmal zu lebenden Menschen gehört hatte, landeten respektlos auf den Ladeflächen. Einige Schädel rollten über den Rand hinweg und kullerten klackernd über den Boden, sodass Yanis und der Vorarbeiter sie aufheben mussten. An manchen Schädeln klebten noch Haut-, Fleisch- und Haarreste. Andere hingegen waren blitzeblank. Yanis übergab sich erneut, aber diesmal kam nur etwas Gallensaft zum Vorschein, denn sein Magen war absolut leer.
Nachdem sie die Skelette von den Karren entfernt und auf den Haufen in La Passion geworfen hatten, teilte ihm Charles, so der Name des Vorarbeiters, mit, dass sie jetzt wechseln würden. »Was für ein Wechsel?«, entgegnete Yanis.
Charles zeigte mit dem Finger nach oben: »Wir gehen hoch und die da oben kommen runter!«
Yanis lächelte das erste Mal, seit er aufgewacht war, und freute sich auf ein Ende des Albtraums. Vielleicht würde sich draußen alles aufklären, aber zumindest die Luft würde deutlich besser sein. »Feierabend?«, fragte er daraufhin Charles.
»Feierabend? Du erstaunst mich erneut, Yanis!«, er machte eine kurze Pause, um umso energischer fortzufahren, »nein, kein Feierabend! Wechsel! Wir sind dran, die Toten aus den Gräbern zu holen und unsere Kollegen schichten hier unten die Knochen auf.«
Der Albtraum würde also weitergehen oder noch schlimmer werden. Yanis blickte Charles resigniert an und bei besseren Lichtverhältnissen hätte man sehen können, wie jeglicher Glanz seiner blauen Augen verschwand. Yanis beschloss, dem Vorarbeiter zu folgen und an der Oberfläche das Weite zu suchen. Egal wie das Paris des Jahres 1802 ihn empfangen würde, überall wäre es besser als hier! Sie gingen ein paar Schritte und folgten einem kurzen Weg, der wie ein nachträglich angelegter Behelfsgang ausschaute. Nach ungefähr 50 Metern erreichten sie eine Treppe, die in zahlreichen Windungen nach oben führte. Sie war so schmal, dass man nicht nebeneinander, sondern hintereinander hergehen musste. Es war stickig in diesem Aufgang, aber nach einiger Zeit konnten sie die Katakomben durch einen steilen Ausstieg, der mit einer schweren Holztür gesichert war, verlassen. Oben warteten schon zwei jämmerliche Gestalten, die ebenso verdreckt waren wie sie selbst. Die beiden waren kaum älter als Yanis, höchstens Mitte 20, und starrten ihn mit leerem Blick an. Beide trugen Schiebermützen aus Stoff und
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