Verflixte Hühnersuppe (German Edition)
dem, was ich da höre, lasse ich den Müll fallen, den ich noch in den Händen halte. „Du musst zur Polizei gehen!“
Ricky schüttelt den Kopf. „Da steht meine Aussage gegen seine. Außerdem würden die mich in ein Heim stecken, falls er deswegen eingelocht wird. Und kommt mein Vater wieder frei, wird alles bloß noch schlimmer.“
Da kann sie Recht haben. Ich starre sie noch immer fassungslos an – bis mein Blick auf ihre Jackentasche fällt. Das Funkgerät steckt zum Teil darin. Und das Lämpchen zum Sprechen leuchtet hellrot.
„Du … das Mikro …“, stammele ich.
Zum zweiten Mal sehe ich, wie Ricky so grau im Gesicht wird wie die Bananenschale auf dem Boden. Die ganze Zeit über hat der Knopf des Funkgeräts geklemmt. Alle Polis müssen unser absolut vertrauliches Gespräch mitbekommen haben. Ich erinnere mich schuldbewusst an die vielen Entschuldigungen des Hausmeisters. Mein Gerät ist ausgeschaltet, deshalb habe ich das Ganze auch nicht mitbekommen.
Ich glaube, Ricky versucht gerade vor Scham neben der faulen Bananenschale zu sterben.
„He, Ricky!“, rauscht es jedoch kurz darauf aus ihrem Gerät. „Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Falls ich dir helfen kann, sag mir Bescheid.“
„Eh, du kannst bei mir pennen, wenn dein Alter sich mal wieder volllaufen lässt!“, sagt eine andere Stimme. „Dann bist du erst mal außer Reichweite. Ist er einmal nüchtern, ist alles nur noch halb so wild. Vielleicht erinnert er sich dann überhaupt nicht mehr.“
„Der Vater meiner Freundin macht das auch mindestens ein Mal die Woche“, sagt Miriam aus meiner Klasse. „Ich kenne da ein paar Tricks. Wir müssen uns unbedingt mal zusammensetzen!“
Von hinten legt Alexander eine Hand auf Rickys Schulter. „Baut dein Alter noch mal Mist – ruf uns an! Wir stehen dann alle auf deiner Fußmatte! Der soll noch mal wagen, in die Ecke zu pinkeln!“
Zum ersten Mal sehe ich, wie sich Rickys Augen mit Tränen füllen. Sie bückt sich, um den Müll vor meinen Füßen aufzuheben. Als sie sich aufrichtet, hat sie trotzdem ein Lächeln auf den Lippen. „Ich nehme euch beim Wort!“, schnieft sie – und schaltet das Funkgerät in ihrer Jacke aus. Dann bringt sie den Müll in den Container.
Ich behalte Recht: (3) Ricky fügt sich bedingungslos in die Gruppe ein und ihre Clique macht es ihr nach. Ted findet sogar Freunde, mit denen er sich nachmittags trifft. Den Friedenskristall brauche ich nicht ein einziges Mal einzusetzen – den ich übrigens bei dem heiklen Gespräch mit den Oberstufenschülern völlig vergessen hatte. Auf jeden Fall kann ich beim Schulleiter bewirken, dass sie ihre Abschlussparty bekommen – mit der Option, dass anschließend auch alles aufgeräumt wird.
Seit Ricky bei der Schülerpolizei ist, haben sich noch mehr Schüler zu den Rundgängen gemeldet. Da wir aber schon 29 Leute sind, habe ich erst einmal die Aufnahme gestoppt.
Ricky geht in ihrer Rolle auf. Sie verrät uns sogar einige Geheimverstecke – vermutlich aber längst nicht alle – und zeigt uns, wie man problemlos über die drei Meter hohe Mauer verschwinden kann.
Seufzend betrachte ich den grauen Steinwall. Er sollte ebenfalls mit Bildern bestückt werden, man fühlt sich ja wie in einem Gefängnis!
Die Zeit saust dahin wie ein stürzender Wasserfall, innerhalb der nächsten Woche bin ich schon in aller Munde bei den Schülern und Lehrern – und das stört mich inzwischen herzlich wenig. Ich habe so viele neue Freunde gefunden und man fragt mich oft um Rat. Niemand gibt mir das Gefühl, ein Baby zu sein, und ich gehöre dazu, so, als sei es nie anders gewesen.
Doch sobald ich allein bin, versinke ich in einer bedrückenden Stille. Noch immer habe ich kein Lebenszeichen meiner Feinde gesehen. Gibt es vielleicht niemanden, der nach mir sucht? Weiß überhaupt jemand, dass ich hier bin? Oder hat man mich schlicht und einfach vergessen?
Ich komme mir so verloren vor wie in einer endlosen heißen Wüste. Die Sonne brennt auf meine Haut, dass sich schon Blasen bilden. Nirgendwo sehe ich Rettung. Meine verflixte Hühnersuppe brodelt gewaltig, sie dampft so stark, dass ich hätte Rauchzeichen geben können. Aber für wen? So lange niemand weiß, dass ich in Not bin, kann mich auch niemand retten, oder? Und mit jeder Sekunde wird mir bewusster, dass mein Leben eine einzige Lüge ist.
Eine weitere Woche später hocke ich – wie fast immer in der Pause – gerade wieder nachdenklich auf meinem
Weitere Kostenlose Bücher