Verflucht sei Dostojewski
später, als er gegangen war, um Medikamente zu holen, konnte sie sein Gesicht allmählich einordnen. Doch während der letzten Atemzüge ihres Vaters vergaß sie die Wiedersehensfreude schnell wieder. Noch am selben Abend ruhte Suphias Schicksal in seinen Händen, in seinen leeren, aber entschlossenen Händen.
So fand er eine neue Familie, die in ihm einen Mann, einen Retter, einen Beschützer sah … Gewichtige Attribute für jemanden mit seinem Stolz.
Und heute, im Licht des Mondes, das über die Wand gleitet, heute ist er erschöpft, unsicher, am Rande des Abgrunds, in seinen Träumereien verloren, von seinen Alpträumen verschlungen.
Der Schatten des Fensters bricht sich nun auf seinem fiebrigen Körper.
1 Im Original auf Deutsch, Anm. d. Ü.
WIEDER EIN SCHREI, DERSELBE wie vorhin, nur lauter; dann ein Wehklagen, noch schmerzerfüllter. Es zerschneidet die Stille des Zimmers, bricht brutal in Rassuls Schlaf ein, der hochschreckt und sich im Bett aufsetzt, den Atem anhält, um besser zu hören. Woher kommt dieses Klagen? Von wem? Er versucht aufzustehen. Keine Kraft. Dieser Schmerz in seinem Fuß! Er hat das Gefühl, an den Knöcheln gefesselt zu sein. Er schleppt sich unters Fenster und hebt den Kopf, um in den Hof zu schauen. Als Erstes bemerkt er Yarmohamads Töchter, die, jede mit einer Sturmlampe in der Hand, auf der Terrasse stehen und eigentümlich abgeklärt den toten Baum betrachten, den Rassul nur undeutlich erkennt. Er zieht sich etwas höher hinauf. Was er nun sieht, schnürt ihm die Luft ab. Yarmohamad kommt mit einem langen Messer in der Hand aus dem Flur. Er stürzt auf den nackten Körper einer Frau zu, die kopfüber an einem Ast des Baumes hängt, mit dem Seil der Schaukel an den Knöcheln festgebunden. Rassuls erschrockener Blick fällt auf ein Fenster, hinter dem er Rona bemerkt, ebenfalls mit einer Sturmlampe in der Hand. Aber sie sieht weder ihren Mann noch den Baum noch ihre Töchter an. Sie ist dabei, Rassul heimlich Kusshände zuzuwerfen. Völlig benommen rückt er näher ans Fenster. Yarmohamad dreht den Körper um, und das Gesicht der Frau erscheint. Es ist Suphia. Rassul schreit. Einen erstickten, in seiner Brust abgestorbenen Schrei. Yarmohamad beginnt, Suphias Brüste abzuschneiden. Das Wehklagen verwandelt sich in Schreien. Rassul, unfähig aufzustehen, hämmert wild gegen das Fenster. Yarmohamad schneidet ungerührt die Brust von Suphia ganz ab, und ihr Jammern und Klagen verstummt. Rassul schlägt weiter auf das Fenster ein, bis die Scheibe zerbricht.
Plötzlich das Krachen einer aufgestoßenen Tür, das grelle Licht von zwei Taschenlampen, die ihn blenden, und das schreckliche Gebrüll von zwei bärtigen Männern, die mit Kalaschnikows bewaffnet ins Zimmer stürmen. Rassul, der unter dem Fenster, mitten in den Glasscherben, zusammengebrochen ist, versucht verzweifelt hochzukommen. Einer der Angreifer stürzt sich auf ihn, schlägt ihm mit seiner Taschenlampe auf den Kopf. Ein anderer wühlt in seinen Bücherstapeln. »Verdammter Kommunist, hast dich wie eine Ratte verkrochen!« Rassul schließt die Augen, öffnet sie wieder in der Hoffnung, diese alptraumhaften Schatten verschwinden zu sehen. Verlorene Liebesmüh, sie sind immer noch da. He du, du bist nicht mehr in deinem Traum. Wehr dich, tu was!
Aber was?
Beruhige sie, sag ihnen, dass du kein Kommunist bist, dass diese russischen Bücher keine kommunistische Propaganda sind, sondern die Werke von Dostojewski. Schrei!
»Die Russen haben deine Mutter gefickt!« Einer der Bewaffneten öffnet ihm die Lippen mit einem Buch; Blut tropft.
Vergiss Dostojewski! Sag etwas anderes, flehe, schwöre im Namen Allahs …
Er versucht es, aber Allah bleibt stumm in seiner Kehle stecken.
Einer der Männer schlägt noch fester zu, wirft ihn zu Boden. Da bemerkt Rassul im Türrahmen Yarmohamad, der das Geschehen nicht ohne Vergnügen beobachtet. Einer der Männer spricht ihn an: »Wie lange versteckt er sich schon hier?« Yarmohamad tritt einen Schritt vor und antwortet unterwürfig: »Über ein Jahr … Ich schwöre euch, ich habe ihm dieses Zimmer nur aus Freundschaft zu seinem Cousin vermietet. Sein Cousin Razmodin ist ein aufrechter und frommer Mudschaheddin … Ich schwöre bei Allah, er versteckt seine Bücher sogar vor seinem Cousin. Razmodin gehört nicht zu denen, die für einen gottlosen Kommunisten einstehen, nicht einmal, wenn er sein eigener Bruder ist …!« Rassul will angewidert protestieren, aufspringen und sich
Weitere Kostenlose Bücher