Verflucht sei Dostojewski
auf Yarmohamad stürzen, ihn am Hals packen, verprügeln, wieder zur Vernunft bringen. Ein bisschen Würde, Yarmohamad! Aber dann trifft ihn ein Fußtritt in den Bauch, und er krümmt sich zusammen. »Wolltest du abhauen?«
Abhauen? Nein … »Warum hast du dann die Scheibe eingeschlagen?« Die Scheibe? … Nein, aber das ist … Verunsichert kämpft sich Rassul hoch, um in den Hof hinauszusehen, wo alles dunkel ist und still. Die absolute Verwirrung. Sein besorgter Blick kehrt zu Yarmohamad zurück, zu seinen leeren, sauberen Händen.
»Los, du kommst mit uns auf die Wache!« Sie führen ihn ab, unter dem Arm ein paar russische Bücher als Beweisstücke.
Als er an Yarmohamad vorbeigeht, schaut Rassul ihm gerade in die Augen, um ihm zu verstehen zu geben, dass er seine Feigheit teuer bezahlen wird. Er hört ihn murmeln: »Razmodin hat die Nase genauso voll von dir und deinen Büchern!«
Nein, diese beiden Männer sind bestimmt nicht zu einer solchen Uhrzeit zu mir gekommen, um mich wegen meiner Bücher zu verprügeln. Es muss mich jemand denunziert haben wegen des Mordes an der Alten. Es ist aus! Die Frau im himmelblauen Tschaderi. Sie war es. Sie wollte mich loswerden. Aber ich werde alles sagen, alles. Ich werde sie der Komplizenschaft bezichtigen. Sie hat nicht das Recht, in Frieden zu leben, ohne mein Verbrechen und meine Strafe zu teilen!
BIN ICH WIEDER EINGESCHLAFEN?
Und diese Stille – von Zeit zu Zeit unterbrochen von Geflüster, gedämpften Schritten, erstickten Klagen –, gehört die zum Traum?
Öffne die Augen, dann weißt du es.
Rasch schlägt er die Augen auf. Aber ein weißes Licht blendet ihn. Er klappt die Lider wieder zu, um sie langsam noch einmal zu öffnen. Immer noch dasselbe Licht.
Er lauscht. Immer noch dieselben Geräusche. Dann ist es also kein Traum?
Nein, mit Sicherheit nicht. Dieses fahle Licht, diese weißen Wände, diese erstickten Stimmen erwecken den Eindruck, als befände er sich in einem Krankenhaus … Bloß dass er nicht in einem weißen Bett liegt. Er liegt halbwegs auf einem alten Ledersofa und versucht, mit den Bildern und Tönen, die ihn bedrängen, seine Gedächtnislücke zu schließen: die beiden Männer, die ihn in seinem Zimmer verprügelt haben; der Eingang zum »Informations- und Kulturministerium«; der grelle Lichtstrahl des Wachhabenden, der sie aufhält; die beiden Männer, die ihn die Treppe im Gebäude hinauf eskortieren; der stechende Schmerz im Knöchel; ein langer Flur, von Glühbirnen schwach erleuchtet, wo in einer Ecke junge Verletzte lethargisch herumliegen, während andere auf Stühlen oder in zerschlissenen Sesseln rauchen; etwas weiter weg sitzen wieder andere auf dem Boden um ein Tischtuch herum und essen Brot und Käse; noch ein Stück weiter sind drei oder vier Männer dabei, alte russische Knarren zu putzen; ein alter Mann rezitiert den Koran; ein anderer bereitet Essen auf seinem Kocher zu und verpestet den Raum mit einem scharfen, fettigen Geruch … Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht Rassul. Er meint sich in einer Szene zu befinden, die er schon einmal erlebt hat. Er meint, unter argwöhnischen, schweren Blicken immer wieder denselben endlos langen Flur auf und ab zu gehen. Dann verliert er das Bewusstsein. Alles wird schwarz.
Und jetzt sitzt er hier einem sehr ernst dreinblickenden Mann gegenüber, der hinter einem großen Schreibtisch in Rassuls russischen Büchern blättert, die Papiere überfliegt, die in den einzelnen Bänden stecken; und hinter ihm die zwei Bärtigen, die ihn hergebracht haben.
Als Rassul sich aufrichtet, zieht er die Aufmerksamkeit des Mannes am Schreibtisch auf sich. Gelassen, mit einem pakol auf dem Kopf, ein spitzes Gesicht, gegerbte Haut, ein sorgfältig gestutzter Bart. Er unterbricht seine Lektüre und fragt Rassul mit dem Anflug eines Lächelns: » Watandar , woher kommst du?«
Watandar , das ist doch ein beruhigendes Wort, ein hübscher Ausdruck, der beinahe in der Versenkung verschwunden ist, seit dieser Bruderkrieg begonnen hat. Es gibt nur noch wenige heute, die jemanden, der nicht in ihr Lager gehört, mit »Mitbürger« anreden. Also fürchte nichts!
Es gibt wirklich nichts zu fürchten. Ich werde es mir auf dem Sofa gemütlich machen und mit großer Gelassenheit antworten, dass ich aus Kabul komme.
Seine Lippen bewegen sich. Der Name seiner Geburtsstadt ist nichts als ein Hauch, gedämpft, unhörbar. »Ich habe nichts gehört«, sagt der Mann und beugt sich über den Schreibtisch.
Hat
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