Verflucht sei Dostojewski
er schon wieder vergessen, dass seine Stimme erloschen ist?
Er räuspert sich, um seine Kehle zu befreien.
Noch immer kein Laut.
Niedergeschlagen beginnt er, die Hände zu bewegen, Zeichen zu machen, auf seinen Adamsapfel zu deuten, ihn nervös zwischen die Finger zu klemmen, irgendetwas, um verständlich zu machen, dass er nicht sprechen kann. »Bist du stumm?« Nein, bedeutet er. »Kannst du hören?« Ja. »Bist du krank?« Mmh, ja.
Der Mann lehnt sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und mustert Rassul eine Weile argwöhnisch, dann fragt er: »In welches Lager gehörst du?«
In keins!, haucht Rassul, aber die Worte bleiben zwischen seinen Stimmbändern stecken, und seine Hände fuchteln wild, um die Antwort auszudrücken. Der Mann erhebt sich von seinem Stuhl und hält ihm einen Stift hin, den Rassul ergreift, um zu schreiben: »In keins.« Der Mann liest. Dann erforscht er wieder Rassuls Gesicht, fragt sich wahrscheinlich, wie es möglich ist, in diesem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land zu leben, ohne einem Lager anzugehören! Dann: »Zu welchem Stamm gehörst du?« Rassul kritzelt: »Geboren in Kabul . « Weiter nichts. Der Mann scheint noch immer nicht ganz überzeugt. »Wo hast du Russisch gelernt?«
Rassul schreibt: » Ich habe in Russland studiert .« Der Mann liest seine Antwort laut vor und fragt dann: »Und was hast du studiert?« – »Jura«, schreibt Rassul und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Und diesen verfluchten Dostojewski!« Der Mann liest, lacht und will wissen: »Warum diesen verfluchten Dostojewski?« Rassul macht eine Geste der Erschöpfung und zeigt auf sein blutbeflecktes Hemd. Sein Gegenüber erklärt: »Diese beiden watandar sind Analphabeten. Für sie ist ein russisches Buch automatisch kommunistische Propaganda.«
Es ist gut, Rassul, du bist gerettet. Dieser Mann versteht dich. Lass dir die Gelegenheit nicht entgehen, etwas mehr zu erfahren über den Grund deiner Verhaftung. Aber wo beginnen? Kennt er Dostojewski?
Er schreibt, der andere liest und antwortet: »Ja, als Student habe ich seine Bücher gelesen, auf Persisch natürlich. Ich habe an der Technischen Hochschule studiert. Aber nach den Demonstrationen von 1981 gegen die sowjetische Invasion habe ich mein Studium aufgegeben und mich den Mudschaheddin angeschlossen. Und du, warst du im … Komsomol?« Er ist schlau, schlauer, als du denkst. Er lässt sich nicht von einem jungen Kabuli wie dich ausfragen. Spiel nicht mit ihm. Dein Leben liegt in seinen Händen. Er kann dich mit einem Atemzug auslöschen.
Sei nicht arrogant. Schildere ihm einfach und demütig dein Leben: Du hast ein paar Jahre in Russland verbracht, in Leningrad … Nein, Sankt Petersburg musst du sagen. Erzähl von deinen Missgeschicken, vom Konflikt mit deinem kommunistischen Vater, der dich gegen deinen Willen zum Studieren in die UdSSR geschickt hat. Du bist nur drei Jahre geblieben, von 1986 bis 1989 . Du hast da ein Mädchen kennengelernt, das du Kussinka , mein Küken, genannt hast. Nein, vergiss die Liebesgeschichte mit dem russischen Mädchen. Dieser Mudschaheddin hält bestimmt nicht besonders viel von Abenteuern mit kafir -Mädchen. Schreib einfach, dass du einen Dostojewski-Spezialisten kennengelernt hast. Er hat dir dieses erste Buch, Verbrechen und Strafe , geschenkt, das dein Leben auf den Kopf gestellt hat. Du hast alles hinter dir gelassen …
Ach nein! Das ist zu viel zum Aufschreiben. Ich muss mich kurz fassen, prägnant sein.
Er beginnt sein Leben zusammenzufassen, aber kaum hat er den ersten Satz geschrieben, wird er von der klangvollen, nachdenklichen Stimme des Mannes unterbrochen. Er liest eines von Rassuls handbeschriebenen Blättern – es sind die Auszüge aus Verbrechen und Strafe , die Rassul übersetzt hat –, dann unterbricht er seine Lektüre, um zu sagen, dass er vor langer Zeit Die Dämonen gelesen habe, aber dieses Buch nicht. Rassul springt auf, um in seinen Papieren nach der Übersetzung zu suchen, die er vom Klappentext von Verbrechen und Strafe gemacht hat. Er findet sie und gibt sie ihm. Der Mann nimmt sie und liest leise vor sich hin: »Ausgangspunkt des Romans ist der Mord des Studenten Raskolnikow an der alten Wucherin in einem Gebäude in Sankt Petersburg: Seine Reflexionen über das Motiv der Tat, der Einfluss von Sonja oder eine geheimnisvolle innere Macht treiben den Helden dazu, sich zu stellen und die Strafe aus freiem Willen auf sich zu nehmen. Während der Jahre im Zuchthaus erkennt er seine
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