Verflucht sei Dostojewski
seiner Schwäche für Rona. Er weiß von Rassuls Schwärmerei, das ist sicher.
»Na, ich geh dann wieder …« Sie wendet sich ab. Rassul, verwirrt, weil er nicht verstanden hat, was sie hinter ihrem Schleier gesagt hat, folgt ihr. Auf der Schwelle bleibt er stehen und sieht ihr nach, bis sie im Halbdunkel ihres Hausflurs verschwunden ist. Hinter den Fenstern sucht er nach Yarmohamad. Kein Schatten. Bestimmt ist er ausgegangen; sonst hätte Rona es nicht gewagt, ihn zu besuchen.
Hätte Rassul seine Sinne beisammen, nicht so viele Sorgen und nicht Suphias Heft in der Hand, hätte er sich jetzt auf die Matratze gelegt und sich seinen Träumereien hingegeben. Seine Hand wäre in die Hose geglitten, um sein Glied zu streicheln. Er würde sich zwei, drei Szenen mit ihr vorstellen, um zu masturbieren. Heute würde er jene wählen, in der Rona ganz nackt auf der Schaukel ihrer Töchter sitzt; den Kopf leicht geneigt, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. Sie schaut Rassul direkt in die Augen. Mit gespreizten Beinen, die Seile um die Arme gewickelt, die Hände auf ihrer Scham, streichelt sie sich … Na, das ist aber nicht gerade der richtige Moment. Man muss wirklich krank sein, besessen, einer, der aus der Irrenanstalt von Aliabad ausgerissen ist, um jetzt an solche Sachen zu denken!
Stell das Tablett ab, schließ die Tür und schreib weiter.
Er schlägt das Heft auf.
»Suphia, ich habe dich nie geküsst. Weißt du, warum?« Und dann? »Weil es mich so viel Kraft kosten würde, deine Unschuld zu küssen …« Woher hast du das? Geht es nicht etwas klarer, etwas direkter? Deine Unschuld zu küssen! Was soll denn das heißen? Wenn du das schreibst, lacht sie dich aus; sie wird sagen: »Dann brich sie doch, meine Unschuld! Küss mich! Ich werde dir die Kraft schon geben.«
Niedergeschlagen klappt er das Heft zu, wirft es zu den Büchern und lässt sich aufs Bett fallen. Er senkt die Lider, um im Dunkeln und in der Stille die Worte zu finden, nach denen er sucht. Doch Schrittgeräusche auf der Treppe lassen ihn hochschrecken. Schwere Schritte diesmal. »Rassul! Ich bin’s, Razmodin.« Er ist nicht allein, jemand flüstert ihm etwas ins Ohr. Rassul rührt sich nicht. »Rassul?«, wiederholt Razmodin und klopft an die Tür. Es bleibt eine Weile still, dann ruft er Yarmohamads Töchtern zu: »He, Mädchen! Ist Rassul ausgegangen?«
»Nein, er ist in seinem Zimmer. Vielleicht schläft er«, antworten sie wie aus einem Munde. Zum Teufel mit euch!, brüllt Rassul innerlich. Und steht auf.
»Rassul«, ruft Razmodin wieder, während er an der von innen verschlossenen Tür rüttelt. Er klopft lauter. Moment!, murmelt Rassul stimmlos. Er macht auf.
»Na, da bist du ja endlich! Wir suchen dich seit zwei Tagen«, ruft Razmodin aus und tritt näher; hinter ihm ein kleiner Mann, dünn, mit weißem Turban. »Rassul, Kommandeur Rostam ist so freundlich, dir einen Besuch abzustatten und …« Kommandeur Rostam geht auf Rassul zu, »mein lieber Rassul«, schließt ihn in die Arme, »endlich lerne ich dich kennen!« Rassul weicht, kühl und wenig gastfreundlich, zurück. Rostam bleibt auf der Schwelle stehen, wartet, bis er aufgefordert wird einzutreten. Es ist Razmodin, der die Initiative ergreift; er stürmt ins Zimmer und macht eine einladende Geste. Der andere tritt ein und hebt zu einer feierlichen Rede an: »Mein lieber Rassul, ich komme von deiner ehrwürdigen Mutter. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe zwei Nachrichten von deiner Familie. Eine ist leider schlecht und sehr traurig, die andere ist gut und gibt zur Hoffnung Anlass: Ich muss dir zu meinem großem Kummer mitteilen, dass dein Vater, der ein guter Moslem war und ganz rein, seine Seele tapfer dem barmherzigen Allah übergeben hat. Er ist als Märtyrer gestorben. Ich drücke dir mein tiefes Beileid aus. Möge ihm das Paradies gewiss sein. Und ich bitte Allah den Barmherzigen für seine Familie und alle, die nach ihm kommen werden, um viel Geduld, um ein langes und erfolgreiches Leben …« Er hebt beide Hände zum Gebet, »Inna lillahi wa inna illayhi radschi’un« . Danach verstummt er und wartet darauf, dass Rassul spricht. Dieser mustert ihn ungerührt. Eher verlegen als erstaunt wirft Rostam Razmodin einen verstohlenen Blick zu, dann zieht er, ohne dass er zum Sitzen aufgefordert worden wäre, seine Schuhe aus und nimmt auf der Matratze Platz. Razmodin tut es ihm nach; und beide starren auf Rassul, der sich, noch immer gleichgültig, etwas
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