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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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Matratze, dann über den Kelim, um sich schließlich in einer Bodendelle zu einer roten Pfütze zu sammeln. Der Schuss hat durch das Zimmer, durch den Hof, durch die Stadt gedröhnt. Bestimmt ist Yarmohamad davon wach geworden. Er glaubt, dass auf der Straße geschossen wurde, genau vor seinem Haus. Und dreht sich auf die andere Seite. Nur Rona ist beunruhigt, sie will, dass er nachschaut, ob nicht im Haus geschossen wurde, auf mich. Er aber, Yarmohamad, pfeift darauf. »Den sind wir los«, murmelt er und wickelt sich in seine Laken.
    Am Morgen stellt er sich nach seinem Gebet lautlos vor meine Zimmertür.
    Warum kommt er?
    Ja, stimmt, warum sollte er kommen? Er wird nicht kommen. Meine Leiche wird hierbleiben. Und vermodern. Die Fliegen werden sich über mich hermachen. Und nach zwei, drei Tagen wird der Gestank Yarmohamad anlocken. Erst wird er nur die Stille wahrnehmen. Er wird klopfen. Keine Antwort. Dann die Tür aufstoßen, die mit einem lauten Knall aufspringen wird. Beim Anblick meiner blutigen Leiche wird er in Panik geraten. Beunruhigt von dem Gedanken, man könnte ihn des Mordes an seinem Untermieter bezichtigen. Wenn er die Pistole in meiner Hand sieht, wird er verstehen, dass ich mich umgebracht habe. Er wird zu Razmodin eilen, um ihn zu verständigen.
    Und dann?
    Dann nichts. Man wird verstehen, dass mein Selbstmord mein letzter Seufzer ist angesichts einer Welt, die mir nicht mehr antwortet, mich nicht mehr überrascht.
    Aber Rassul, wer kann sich vorstellen, dass du einen solchen Akt begehst? Niemand. Weder Yarmohamad noch Razmodin. Du weißt doch, dass der Selbstmord in deiner Kultur nicht vorkommt. Und du weißt auch, warum.
    Zunächst muss man, um sich umzubringen, an das Leben glauben, an seinen Wert. Der Tod muss das Leben wert sein. Hier, in diesem Land, heute, hat das Leben keinen Wert mehr und somit auch der Selbstmord nicht.
    Und außerdem wird der Suizid als undankbare Rebellion gegen Allahs Willen aufgefasst. Man will ihm damit sagen: »Hier, da hast du sie zurück, bevor du sie verlangst, diese lumpige Seele, die du meinem unschuldigen Körper eingepflanzt hast!« Man beweist ihm, dass man mächtiger ist als er, dass man nicht akzeptiert, sein Sklave, sein banda , zu sein. Selbstmord heißt, seine Seele ohne jede Dankbarkeit zurückzugeben.
    Bevor sie deine Leiche beerdigen, wird sie ausgepeitscht werden. Das ist der Grund, warum niemand einen Selbstmord zugibt. Jeder Selbstmord wird als Mord ausgegeben. Du wirst nur ein Opfer sein, ein schahid , ein Märtyrer unter so vielen anderen. Du, der zum »Übermenschen« werden wollte.
    Schahid sein? O nein! Das ist heute jedermanns Credo. Das ist völlig wertlos. Die ganze Welt soll wissen, dass ich mich umgebracht habe.
    Also stell dich mitten auf eine Kreuzung, halte deine Rede und jag dir eine Kugel in den Kopf, vor Zeugen. So wird es die Welt erfahren. Aber selbst dann wird niemand den theoretischen Hintergrund deines Aktes begreifen. Jeder würde seine eigene Version liefern. Der eine wird sagen: »Er war krank«, der Nächste: »Er hat zu viel Haschisch geraucht«, wieder ein anderer: »Es sind die Gewissensbisse. Er hat seine Familie schlecht behandelt!«, oder: »Er hat es bereut, ein Kollaborateur, ein Kommunist, ein Verräter zu sein!«; und wenn man eines Tages entdeckt, dass du nana Alia umgebracht hast, wird es heißen, dass dich dein schlechtes Gewissen zu dieser Tat veranlasst hat. Nein, niemand wird sagen, dass du dich einfach umgebracht hast, weil du am Ende warst, weil deine Fragen keine Fragezeichen mehr hatten, weil alle deine Fragen höchstens noch ein Erstaunen angesichts der plötzlichen Absurdität des Lebens waren. Niemand wird sagen, dass du eine unselige Kreatur, eine Laus , getötet hast, um in die Reihe der »großen Männer« aufgenommen zu werden und einen Platz in der Geschichte einzunehmen. Und vergiss nicht, dass in diesem Land heute jeder diesen Rang anstrebt. Jeder kämpft dafür, ein ghazi zu werden, wenn er tötet, und ein schahid , wenn er getötet wird. Deine Angehörigen werden aus dir einen ghazi machen, da du eine Kupplerin umgebracht hast, und einen schahid , weil ihre Familie dich ermordet hat, um sie zu rächen. Auf deinem Grabstein wird stehen: » Schahid Rassul, Sohn des Ibrahim«, ob du willst oder nicht.
    Nein, ich will nicht.
    Also leg die Pistole weg.
    Dann habe ich also nicht einmal die Freiheit, mich umzubringen?
    Nein.
    Existiert Gott, wie Dostojewski sagte, wirklich, damit der Mensch sich

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