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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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schießen alle, ohne zu wissen, warum und auf wen.
    Man schießt.
    Und schießt …
    Die Kugel wird ihr Ziel schon finden.

OHNE EIN BESTIMMTES ZIEL, gleichgültig gegen das Durcheinander, das die Stadt beherrscht, streift Rassul umher. Er hat keine Lust, zu Suphia zurückzukehren; oder zu seiner Tante zu gehen, um nach Razmodin zu fragen – außerdem ist der inzwischen bestimmt in Mazar, bei Donia. Er nähert sich dem Informations- und Kulturministerium. Hinter einer Barrikade schreit jemand: »Bring dich in Sicherheit, kharkos !«
    Rassul geht auf die Stimme zu. Ein Mann packt ihn und zieht ihn hinter den Schutzwall, während er ihn anbrüllt: »Blödmann! Wenn du lebensmüde bist, geh woandershin, hier hat keiner Zeit, deine Leiche aufzusammeln. Was treibst du dich überhaupt hier rum?« Es ist Janos Freund, der, der ihn in seinem Zimmer geschlagen hat. »Falls du zu Kommandeur Parwaiz willst, der ist nicht da. Er sucht Jano, der verschwunden ist.«
    Jano, verschwunden? Er muss geflohen sein. Er muss den ganzen Krieg satthaben.
    Rassul steht auf und verlässt den Schutz der Barrikade. Er geht mitten zwischen den Schüssen, den Schreien, den Panzern hindurch … Nichts berührt ihn. Er gelangt zum Zarnegar-Park. Zwischen den Bäumen hängt Rauch. Rassul legt sich in einer Ecke des Gartens auf den Rasen. Er raucht, fügt unbekümmert dem Rauch der Waffen noch den seiner Zigarette hinzu. Er schließt bedächtig die Augen und bleibt eine Weile ausgestreckt liegen. Nach und nach schwächen sich die Geräusche ab, bis es ganz still ist. Für lange Zeit.
    Plötzlich Schritte, die sich nähern, fast seinen Kopf streifen, sich sanft in seine Mattheit schleichen. Er öffnet die Augen. Eine Frau im himmelblauen Tschaderi geht ganz nah an ihm vorbei. Als er sie sieht, richtet er sich auf.
    Suphia? Er steht auf, geht zögernd hinter ihr her.
    Als sie bemerkt, dass sie verfolgt wird, verlangsamt sie ihre Schritte, bleibt stehen und dreht sich ängstlich zu Rassul um, der näher kommt. Sie tritt etwas zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Er aber bleibt ebenfalls stehen. Verwirrt geht sie weiter.
    Lass sie, Rassul, es ist nicht Suphia.
    Aber wer dann?
    Eine Frau halt, eine von vielen.
    Aber was tut sie hier? Warum ist sie in den Park gekommen, ausgerechnet jetzt, wo sich alle in Sicherheit bringen?
    Sie hat sich wie du in den Park geflüchtet, sucht Schutz zwischen den Bäumen.
    Nein, sie ist zu mir gekommen. Daran ist kein Zweifel möglich.
    Die Frau erreicht das Ende des Parks und biegt auf die große Straße, die zur Kreuzung von Malekazghar führt.
    Rassul geht schneller, überholt sie und versperrt ihr den Weg.
    Ängstlich bleibt sie stehen; sie blickt sich in alle Richtungen um. Da ist niemand. Zunehmend beunruhigt, geht sie ohne ein Wort um Rassul herum, setzt ihren Weg fort. Rassul folgt ihr. Als er sie eingeholt hat, prüft er, ob sie Suphias Größe hat. Nein. Die von nana Alias Tochter? Nicht sicher. Warum verfolgst du sie dann?
    Ich weiß es nicht. Ihr Auftauchen hier ist seltsam. Sie sucht ganz bestimmt jemanden.
    Aber nicht dich!
    Wer weiß?
    Sie gelangen zur Kreuzung. Sie überquert sie hastig.
    Schau sie doch an. Sieht sie etwa aus wie jemand, der dich sucht? Doch eher wie jemand, der vor dir flieht.
    Enttäuscht gibt er seine Verfolgungsjagd auf, zündet sich eine Zigarette an.
    Doch als die Frau auf der anderen Seite der Kreuzung angekommen ist, bleibt sie stehen, um Rassul zu beobachten.
    Sie spielt mit mir. Sie möchte, dass ich ihr folge.
    Und er stürzt ihr hinterher, um sie einzuholen. Wieder flieht sie. »Bleib stehen!«
    Rassul bleibt stehen.
    Woher kommt diese Stimme?
    Aus dir!
    »Bleib stehen!«, ja, das kommt aus meiner Kehle!
    Er schreit: »Bleib stehen!« Es ist seine Stimme, zerbrechlich, ramponiert, belegt, aber deutlich hörbar. »Bleib stehen!« Er rennt. Die Frau rennt ebenfalls. »Bleib stehen!« Er holt sie ein, »bleib stehen!«, gerät außer Atem, »ich … ich habe meine Stimme wiedergefunden!«, versucht, die Frau durch das Gitter ihres Tschaderi zu mustern, »ich kann reden!«, geht noch einen Schritt auf sie zu, »ich will mit dir reden«. Sie hört ihm zu. Er sucht nach Worten. »Wer bist du?« Sie bleibt stumm. »Wer hat dich geschickt?« Seine Hand, zögernder als seine Stimme, streckt sich aus, um den Schleier zu heben. Erschrocken weicht die Frau zurück. »Wer immer du bist, du musst mich kennen. Du bist gekommen, um mich zu suchen. Du bist gekommen, um mich zum Sprechen zu

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