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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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bringen. Nicht wahr?« Die Frau dreht den Kopf weg. »Du bist es, die mir im Traum meinen Adamsapfel gebracht hat.« Er berührt sie; sie zuckt zusammen, macht einen Schritt nach hinten. »Ich kenne dich. Du bist die Frau im himmelblauen Tschaderi. Ich habe dich an deinem Gang erkannt. Du bist es, die die Leiche der nana Alia gefunden hat, und du hast sie verschwinden lassen. Du hast ihre Schmuckschatulle und ihr Geld genommen. Das hast du gut gemacht. Du bist intelligent und gerissen. Bravo!« Sie zögert, die Straße zu überqueren, auf den anderen Gehsteig zu wechseln. »Etwas musst du wissen: Ich hätte dich ebenso töten können, aber ich wollte es nicht … Du verdankst mir dein Leben, weißt du das?« Sie wankt – aus Angst oder Überdruss –, fängt sich wieder, läuft los. »Hör mir zu! Bleib noch einen Augenblick. Ich muss mit dir reden.« Sie verlässt den Gehsteig, stellt sich mitten auf die Straße, in der Hoffnung, dass jemand auftaucht, ein Auto, ein Panzer … Da ist nichts. Niemand. Rassul folgt ihr. »Flieh nicht vor mir. Ich tu dir nicht weh. Ich könnte das gar nicht.« Er packt ihren Tschaderi, der ihm durch die Finger gleitet. »Du kannst nicht mehr vor mir fliehen. Das ist vorbei. Wir haben uns wiedergefunden. Wir haben dasselbe Leben, dasselbe Schicksal. Wir sind gleich. Wir haben uns beide die Hände an demselben Verbrechen schmutzig gemacht. Ich habe getötet; du hast gestohlen. Ich bin ein Mörder; du eine Verräterin …« Die Frau bleibt stehen, dreht sich zu ihm um, sieht ihn noch einmal an, dann geht sie weiter. Überrascht von diesem plötzlichen Halt, fährt Rassul etwas ruhiger fort: »Aber die Tat, die uns verbindet, lastet einzig auf meinem Gewissen. Und es ist nicht gerecht, dass nur ich darunter leide. Ich, der ich mit dem Verbrechen meine Verlobte aus den Händen dieser Hure befreien und mit ihrem Geld unseren beiden Familien helfen wollte … Jetzt tut es mir leid um das Geld und um den Schmuck, aber die Gewissensbisse plagen mich. Hilf mir! Nur du kannst mir helfen. Wir können uns zusammentun, das Geheimnis bis ans Ende unserer Tage bewahren; und glücklich sein.« Wieder verlangsamt die Frau ihre Schritte – ein Augenblick des Nachdenkens, des Zweifelns, oder eine Atempause –, dann geht sie weiter in Richtung Kabul Wellayat , des Gouverneurssitzes. »Sag mir, was du mit der Schatulle und dem Geld gemacht hast. Das gehört mir. Ich muss es zurückhaben. Damit kann ich zwei Familien glücklich machen, jetzt sogar drei, mit deiner. Egal, wenn man mich verhaftet, egal, wenn man mich hängt; wenigstens wäre ich dann von meinem Verbrechen befreit. Es wäre Schluss mit dem ganzen Leid.« Die Frau läuft, noch immer stumm, an den Mauern des Kabul Wellayat entlang. Rassul wagt nicht mehr weiterzugehen. Er starrt die Frau an. »Nimm mich mit zu dir, sonst zeige ich dich bei Gericht an, beim Gouverneur. Du Taubstumme, hörst du mich?« Noch immer Schweigen. »So sag mir doch wenigstens, wer du bist. Sag mir, ob dich mein Verbrechen glücklich gemacht hat.« Die Frau erreicht das Eingangstor des Wellayat , bleibt stehen und dreht sich zu Rassul um, als wollte sie ihn auffordern einzutreten. Zögernd nähert er sich ihr, dicht an der Mauer. »Nein, du kannst nicht glücklich sein ohne mich. Du brauchst mich, so wie ich dich brauche. Wir sind wie Adam und Eva. Kopf und Zahl. Beide vertrieben, um auf dieser verdammten Erde zu leben. Wir können nicht ohne einander leben. Wir sind dazu verdammt, unser Verbrechen und unsere Strafe zu teilen. Wir werden ein Heim gründen. Wir werden weit weg gehen, sehr weit, in unerreichbare Täler. Wir werden ein Dorf errichten und es … das Tal der verlorenen Sünden nennen. Wir werden unsere eigenen Gesetze schaffen, unsere eigene Moral. Und wir werden Kinder haben, nicht wie Kain und Abel, sonst werde ich Kain umbringen. Ja, ich werde ihn umbringen, weil ich weiß, wozu er fähig ist. Ich werde ihn gleich nach seiner Geburt töten!« Die Frau öffnet das Tor und tritt nach einem letzten Blick auf Rassul in den Hof. Er bleibt verblüfft zurück. Schaut um sich; die Straße ist noch immer ausgestorben; die Stille noch abgründiger; der Himmel tief und schwer. Er tritt ans Tor des Wellayat . Durch das Gitter sieht er nur Ruinen, keine Spur von der Frau.
    Wer war das?

» WER IST DA?« EINE schrille Stimme lässt Rassul aufhorchen. Woher kommt sie? »Ist da jemand?«, murmelt er in zerbrechlichem, dumpfem Ton. »Ja, Dschinns!«, ertönt eine

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