Verflucht sei Dostojewski
zweite Stimme aus dem Wächterhäuschen aus Quaderstein gleich neben dem Tor des Kabul Wellayat , gefolgt von sarkastischem Gelächter. Im Inneren sieht Rassul Körper, die auf dem Boden liegen. »Haben Sie eine Frau hereinkommen sehen?«
»Eine Frau? Hier? Hätten wir doch bloß ein solches Glück!« Die Körper werden vom Lachen durchgeschüttelt.
»Ist jemand im Wellayat ?«
»Wen suchst du denn?«
»Den Staatsanwalt.«
»Was ist denn das für ein Dschinn?«, und zu seinem Gefährten: »Kennst du den etwa?«
»Nein. Frag ihn nach einer Zigarette.«
Rassul nimmt zwei Zigaretten und hält sie ihnen hin. »Schmeiß sie!« Er wirft. »Es wird doch wohl jemand hier sein? Ein Gouverneur, ein Richter, ein …«
»Sieh doch selber nach! Woher sollen wir das wissen?«
Rassul hat die Köpfe der beiden Soldaten nicht gesehen. Er betritt den verwüsteten Hof. Der Boden ist mit Papieren und verbrannten Heften übersät. Die Mauern sind von Schüssen durchsiebt. Der Gouverneurssitz liegt verlassen da, in düsteres, dichtes Schweigen gehüllt. Von der Frau im himmelblauen Tschaderi noch immer keine Spur.
Eigenartiges Auftauchen!
Eigenartiges Abtauchen!
Eine ätherische Frau, aus dem Nichts gekommen, wie um ihm seine Stimme zurückzugeben, ihm den Weg zu zeigen, ihn der Justiz auszuliefern, hierher, ins Kabul Wellayat zu bringen, das eine einzige Ruine ist: das Gerichtspalais ebenso wie das »Überwachungsgebäude« und die »Haftanstalt«.
Vor dem einzigen intakten Gebäude bleibt er stehen, geht die Treppe hinauf, tritt ein. Ein langer Flur mit verschmierten Wänden. Seine Schritte hallen wider, machen die Stille noch dichter, noch unheimlicher. Er hält inne. Ein seltsames Gefühl beschleicht ihn. Er zögert, dann geht er widerstrebend weiter. Die Türen der Büros zu beiden Seiten des Flurs stehen offen. Licht dringt durch die Öffnungen und beleuchtet den dunklen, düsteren Schlauch etwas. Obwohl ein paar Möbel drinstehen – Stühle, Tische, Bürosachen –, sind die Räume seelenlos, außer einem, wo an einer Wäscheleine ein paar nasse Frauen- und Kinderkleider in der Sonne hängen. Es gibt also doch Leben hier. Die Frau im himmelblauen Tschaderi muss hier wohnen.
Endlich werde ich sie kennenlernen!
Als er in der Mitte des Flurs angelangt ist, hört er Schritte, dann sieht er einen kleinen Jungen, der eine Treppe heraufkommt. Bei Rassuls Anblick rennt er wieder hinunter. Rassul folgt ihm und gelangt ins Untergeschoss, zu einem Schild mit dem Hinweis »Justizarchiv«. Schwaches Licht am Ende eines langen Flurs führt ihn zu einem Raum, aus dem gedämpftes, greisenhaftes Flüstern zu vernehmen ist: »You… Younness … Youss… Youssef …« Rassul tritt ein. Es ist ein großer Saal, in dem sich Schränke und Regale voller alter, vergilbter Akten aneinanderreihen. Rassul kann noch immer nicht ausmachen, woher die Stimme kommt. »Ist da jemand?«, fragt er schüchtern. Keine Antwort, aber immer noch diese greisenhafte Stimme, die brabbelt: »Youssef …«
»Ist da jemand?«, wiederholt er beinahe schreiend. Nach kurzem Schweigen antwortet die Stimme: »Zwei sogar!«, um gleich wieder fortzufahren: »Youssef, Youssef, Youssef Ka…«, wie eine Beschwörungsformel. Rassul sucht nach einem Durchgang, um zu dem Mann vorzudringen. Dort ist er, ganz hinten im Raum, vor einer Kellerluke, hinter einem großen Schreibtisch, und wühlt in Unterlagen herum. Ein Junge leuchtet ihm mit einer Laterne.
Als sie Rassuls Schritte hören, heben beide den Blick. Der Alte nickt mit dem Kopf, wie zum Gruß, und macht sich mechanisch wieder an die Arbeit. Rassul geht auf den Schreibtisch zu und sagt: »Ich suche den Herrn … Staatsanwalt.« Der Alte, mit dem Durchblättern eines großen Hefts beschäftigt, das er aus einer der Akten gezogen hat, scheint ihn nicht zu hören. Er schlägt ein paar Seiten um, und sein Finger bleibt auf einer Liste mit Namen liegen. »Youssef Ka…, Youssef Kab…, Youssef Kabuli! Ist er das, Kleiner?« Der Junge, der die Laterne hält, ist durch Rassuls Anwesenheit abgelenkt. Der Mann schimpft: »Ich rede mit dir, Kleiner, schau, ob das der Name deines Vaters ist. Wo hast du nur deinen Kopf?« Der Junge beugt sich verwirrt über das Heft. Rassul geht noch einen Schritt näher heran und fragt mit ungeduldiger Miene noch einmal: »Wo kann ich den Herrn Staatsanwalt finden?«
»Ich habe sehr wohl gehört, mohtaram . Ich habe gehört, was Sie mich gefragt haben. Sie haben mir ja schließlich
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