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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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traurigen Lächeln auf den Lippen Tee serviert. Auch Parwaiz ist da, allein in einer Ecke, düster, kummervoll, nervös, die Augen auf den Boden geheftet. Neben dem Qhazi Amer Salam. Die Brust gebläht. Seine auf einen Stock gestützten fleischigen Hände befingern eine Gebetskette. Er mustert Rassul, während er den Kopf bewegt; unmöglich zu sagen, ob er damit ausdrücken will »Endlich sind wir so weit!« oder ob er betet.
    Der Qhazi schlürft seinen Tee; die anderen tun es ihm geräuschvoll nach. Farzan verlässt den Saal, wirft Rassul einen letzten, noch traurigeren Blick zu. Der Qhazi stellt sein Glas ab und gibt dem neuen Gerichtsschreiber an seiner Seite ein Zeichen, dass die Sitzung anfangen kann. Der Gerichtsschreiber erhebt sich, schließt die Augen und rezitiert eine Sure aus dem Koran. Als die Rezitation beendet ist, fordert der Qhazi Rassul auf, näher zu treten: »Stell dich vor!« Rassul wirft Parwaiz einen besorgten Blick zu und bleibt stumm. Der Richter wird ungeduldig: »Ich habe gesagt, du sollst dich vorstellen!« Stille. Parwaiz erhebt sich: »Dieser Junge ist krank … Er hat keine Stimme mehr.« Der Qhazi regt sich auf: »Was soll das heißen, er hat keine Stimme mehr? Gestern ging es ihm gut. Und heute kann er plötzlich nicht mehr reden!« Und, indem er sich ans Publikum wendet: »Moslembrüder, wir haben dank unseres Dschihads den Kommunismus besiegt.« Mit einem Mal erheben sich sämtliche Stimmen: »Allahu akbar« , dreimal hintereinander. Und der Qhazi fährt fort: »Die Gottlosen aber, die Überlebenden dieses Regimes, agitieren noch immer inmitten unseres muslimischen Volkes und setzen ihre Verbrechen fort, verbreiten weiteres Übel. Dieses Individuum, das ihr vor euch seht, gehört zu ihnen. Vor wenigen Tagen hat er eine wehrlose Witwe grausam ermordet, um ihr Geld und ihren Schmuck zu stehlen. Zum Glück ist es den Sicherheitsverantwortlichen unserer Mudschaheddin-Regierung unter dem Befehl unseres Bruders, des hier anwesenden Kommandeurs Parwaiz, gelungen, ihn festzunehmen.«
    Parwaiz ist überrascht; sein beunruhigter Blick sucht den Rassuls, doch der fixiert beharrlich den Boden. Als Parwaiz vortritt, um das Wort zu ergreifen, fordert der Qhazi den Gerichtsschreiber mit einer Handbewegung auf, eine neue Sure aus dem Koran zu rezitieren. Alle verstummen. Ende der Rezitation, der Qhazi fährt fort: »Hat der Angeklagte den Sinn des dreiunddreißigsten Verses der Sure verstanden?« Rassul blickt ihn an, ohne zu antworten. »Statt Russisch zu lernen, hättest du besser die Sprache Allahs gelernt. Gottloser! Gott hat gesagt: Der Lohn derer, die gegen Gott Krieg führen und im Land eifrig auf Unheil bedacht sind, soll darin bestehen, daß sie umgebracht oder gehängt werden oder daß ihnen Hand und Fuß abgehauen wird oder daß sie des Landes verwiesen werden. «
    Die Männer schreien: »Allahu akbar!« , wieder dreimal. Der Richter trinkt einen Schluck Tee: »Rassul, Sohn des … Wie war der Name deines Vaters?« Er wartet, vergeblich, dann: »Auch egal. Rassul, Sohn des …, erwachsen und im Besitz seiner geistigen Kräfte, hat gestanden, am Sechzehnten des Monats Assad im Sonnenjahr 1372 nach der Hidschra eine Witwe ermordet und ihr Geld und ihren Schmuck gestohlen zu haben. Das Gericht befindet ihn also des Diebstahls und des Mordes schuldig und sieht für ihn die höchste Strafe nach der islamischen Scharia vor, das heißt Amputation und darauf Erhängen …«
    Während die Männer wieder ihr dreifaches »Allahu akbar« ertönen lassen, steht ein Mann auf und protestiert: »Das ist nicht gerecht!« Als Antwort rufen andere Stimmen in den Saal: »Das ist gerecht!«, »So lautet das Gesetz der Scharia!«, »Das ist gerechtfertigt, absolut gerechtfertigt!«, »Also ist es gerecht!« … Der Protestierende versucht, sich Gehör zu verschaffen: »Es ist gerecht, Hände abzuschlagen, das ist gerecht …« Er rezitiert einen Koranvers, was den Klamauk zum Verstummen bringt, und fährt fort: » Qhazi sahib , heute herrscht, wie Sie es gesagt haben, dank Allah …«, der Saal: »Allahu akbar …« ,der Mann weiter: »… in unserem Land das Gesetz der Scharia, das die Grundlage unseres islamischen Staates ist. Möchten Sie, dass dieses Gesetz befolgt wird? Dann muss alles ganz genau auf dem fiqh begründet sein. Zunächst einmal, dieser Mann hat keine Stimme mehr …«
    »Doch, dieser fitna hat seine Stimme noch, er tut nur so«, sagt der Qhazi , dann richtet er sich an die

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