Verflucht sei Dostojewski
bei diesem Mord weder Opfer noch Zeugen noch Beweise gibt. Es existiert keine einzige Spur.«
»Wie alle Mörder hat dieser lasterhafte Mensch sämtliche Spuren vernichtet«, sagt der Qhazi . Parwaiz antwortet ihm: »Hätte er diese Absicht gehabt, wäre er nicht selbst hergekommen, Qhazi sahib ! Bei all den Morden, die heutzutage in dieser Stadt begangen werden, ist selbst ein Kind in der Lage, sämtliche Spuren seines Verbrechens zu verwischen. Haben wir etwa den Mörder unserer jungen Mädchen verhaften können? Haben wir eine Spur gefunden in diesem Mordfall, bei dem unsere Frauen und Kinder erbarmungslos vergiftet wurden?« Er verstummt und gibt den Anwesenden Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich die Grausamkeit vor Augen zu führen, in der sie leben. Sind sie fähig zu verstehen, was Parwaiz sagt?
»Nehmen wir nun an, dass es ein Opfer gegeben hat. Es ist nicht an mir, Ihnen zu erklären, dass nach unserem fiqh dann Mord vorliegt, wenn das Opfer ma’sum ad-dam ist, unschuldig und beschützt. Was in dieser Angelegenheit nicht der Fall ist. Das Opfer ist eine Zuhälterin, also zur Steinigung verdammt.« Keinerlei Protest. »Der Fall dieses jungen Mannes, der sich selbst der Justiz gestellt hat, um im Rahmen eines öffentlichen Prozesses gerichtet zu werden, scheint mir exemplarisch. Er ist für uns eine gewaltige Lehre. Wenn heute, dem Beispiel dieses Mannes folgend, jeder von uns seine Taten in Frage stellen würde, könnten wir das brudermörderische Chaos besiegen, das in unserem Land herrscht.«
»Was willst du damit sagen?«
»Vergleichst du etwa die Mudschaheddin mit diesem fitna ?«
»Parwaiz, du auch?«
»Wer bist du? Ein Mudschaheddin, ein Befreier, ein Führer deines Volkes oder der Anwalt dieses Abtrünnigen und Mörders?«
»In die Hölle mit diesem Satan!«
»Sei verflucht, Parwaiz!«
Parwaiz stellt sich in die Mitte des Saals: »Es gibt keinen Mord. Hört mir zu, es ist ein eingebildeter Mord, die Illusion eines Mordes, nur um unsere Taten in Frage zu stellen!«
»Ist er verrückt?«
»Nein, liebe Brüder, er ist nicht verrückt, er ist sogar äußerst hellsichtig, von klarem Bewusstsein; selbst seiner Illusionen ist er sich bewusst. Wir sind verrückt, wir, die wir kein Bewusstsein von unseren Verbrechen haben!« Alle stehen auf, schreien durcheinander. »Hört mir zu! Dieser junge Mann bittet euch um Gerechtigkeit aufgrund einer Illusion …« Je lauter Parwaiz schreit, desto mehr erregen sich die Männer. Schließlich stürzen sie sich alle auf ihn, umringen ihn. Es herrscht ein einziges Chaos.
Rassul lacht.
Lach nicht. Sie werden dich in die Irrenanstalt von Aliabad stecken, zu den Verrückten.
Aber wo bin ich denn hier?
IN SEINER ZELLE IST es finster.
Eine Fliege hat sich auf seine Hand gesetzt. Er pustet; sie schüttelt sich, fliegt davon.
Das Miststück!
Warum so viel Hass und Ingrimm gegenüber einem so kleinen Tierchen?
Weil die Fliege einfach so in diese Welt hereinplatzt.
Sie platzt nicht herein. Sie lebt in dieser Welt, weil es ihre Welt ist. Du bist es, der von anderswo kommt. Du bist es, der in eine Welt hineinplatzt, die nicht die seine ist. Schau sie an, schau doch, mit welcher Leichtigkeit sie in ihrer Welt lebt.
Weil sie kein Bewusstsein hat.
Sie hat kein Bewusstsein, weil sie keins braucht. Sie lebt ihre Leichtigkeit, ihren Tod … ganz einfach.
Und sie kommt zurück und setzt sich wieder auf seine Hand. Er versucht sich zu regen, keine Kraft in den Armen. Ist es die Kette, die ihn hindert, die Hand zu heben, oder die Fliege? Sie ist es, die Fliege, ohne jeden Zweifel. Sie lähmt ihn. Sie legt seine Welt lahm.
Er reckt den Hals, um sich dem Insekt zu nähern, pustet wieder. Unmöglich. Sein Körper ist starr, schwer wie ein Stein. Sie schauen einander an. Ihm scheint, als wolle die Fliege ihm etwas sagen, in einer unverständlichen Sprache. Rhythmische Wörter, ein Gesang beinah: Tat, tat, tat … twam, twam … asi … Dann bewegt sie sich, fliegt los und setzt sich an die Wand. Jetzt kann Rassul seine Hand heben, leicht werden. Die Ketten lösen sich geräuschlos. Er steht auf, um die Fliege einzufangen. Er sieht nur ihr Abbild an der Wand, wie eine Freske. Er berührt sie. Die Wand ist beinahe flüssig, durchdringbar. Seine Hand geht durch sie hindurch. Sie setzt ihm keinen Widerstand entgegen. Sie saugt ihn an. Jetzt dringt sein ganzer Körper in sie ein. Im Inneren der Wand erstarrt Rassul. Wird ein Abbild an ihrer Oberfläche, der Fliege gleich,
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