Verflucht seist du: Kommissar Dühnforts fünfter Fall (German Edition)
nachtrauern und sich hängen lassen. Bei dem Gedanken an Isa fiel ihr wieder ein, dass sie ja nachsehen wollte, ob Isas Mails noch auf dem Mailserver lagen. Gestern hatte sie das nicht mehr geschafft.
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Dühnfort kehrte ins Haus zurück. Holtmann und seine Leute arbeiteten sich auf der Suche nach dem Revolver systematisch voran. Irgendwo hier musste er sein. Dettmann hatte ihn bestimmt nicht weggeworfen oder weiterverscherbelt. Fürs Wegwerfen war er zu teuer. An die tausend Euro musste man für einen illegalen Revolver in gutem Zustand berappen. Ein Verkauf barg außerdem die Gefahr, die Waffe könnte erneut für eine Straftat Verwendung finden und über diesen Umweg in die Hände der Polizei geraten. So unvorsichtig war Dettmann nicht. Die Waffe musste hier irgendwo sein.
Aber nicht deshalb war Dühnfort ins Haus zurückgekehrt. Es waren die Rollen mit Dämmstoff, die er vorher eher beiläufig wahrgenommen hatte. Seine Vermutung bestätigte sich. Derselbe Hersteller, dieselbe Produktbezeichnung wie am Tatort in Unterhaching.
Dühnfort entschloss sich, dorthin zu fahren, und verabschiedete sich von Holtmann. »Wenn ihr die Waffe findet, ruf mich an.«
»Bist du dir so sicher, dass sie hier ist?« Holtmann fragte das mit leiser Skepsis.
»Eigentlich schon.« Erst im Auto beschlichen ihn Zweifel. Dettmann war vorsichtig. Vielleicht hatte er den Revolver auch im Wald vergraben oder einem guten Freund zur Aufbewahrung gegeben. Man würde sehen.
Nach Unterhaching waren es nur zehn Minuten Fahrt. Von unterwegs rief er Senftleben, den Bauleiter, an und hatte Glück. Er war zurzeit auf der Baustelle und wollte auf Dühnfort warten.
Die Sonne stand tief im Westen und blendete ihn. Im Auto staute sich die Hitze. Ein Abend auf dem Boot. Mit Gina. Der weite Himmel über ihnen. Das kühle Wasser an ihrer Haut. Das Brennen der Muskeln, wenn sie um die Wette schwammen. Ihre Atemlosigkeit, wenn sie schließlich die Leiter am Heck, wie immer als Erste, hochkletterte und sich erschöpft auf die Planken fallen ließ. Das Wasser, das auf ihrer Haut perlte und aus den Haaren tropfte. Die kühle Feuchtigkeit ihrer Lippen, ihr nasser Körper unter seinem. Ihr befreiendes Lachen, das Funkeln in ihren Augen. Der Schrei einer Möwe, die Alpenkette am Horizont, die sich in milchigem Dunst auflöste, weiße Segel, die dem Ufer zustrebten, ein sanftroter Schein, der sich noch eine Weile hielt, während der Abend sich langsam über sie senkte wie ein weiches Tuch. Das war es, wonach er sich in diesem Moment sehnte. Ein paar Stunden Ruhe, eine Auszeit von all dem, was Menschen einander antaten. Ein Anflug von Überdruss überfiel ihn, für einen Augenblick wünschte er sich, nicht länger in den Niederungen menschlicher Neigungen herumkriechen zu müssen. Er wollte sich dem nicht stellen, was sich abzuzeichnen begann. Ein ganz und gar sinnloser Tod eines jungen Menschen. Doch wann war der Tod schon sinnvoll?
Vielleicht am Ende eines erfüllten Lebens, wenn du alles gegeben und alles gewonnen hast, wenn all die fragilen Gebilde von Liebe und Hass, von Verantwortung und Zweifel, von Sorge und Glück, von Hoffnung und Erfüllung für die Dauer eines Wimpernschlags in einem zerbrechlichen Gleichgewicht schweben wie ein Reigen Schmetterlinge, die einander in nie erträumter Harmonie umtanzen. Wenn dich in einem solchen Moment die Kräfte verlassen und der Wille, sich ans Leben zu klammern, wenn die Vorstellung, sich in Unendlichkeit aufzulösen, ebenso leicht und wünschbar wurde wie die Gewissheit, künftig nur noch in Erinnerungen zu existieren, bis auch diese sich schließlich nach Generationen verloren, wie dein Name, der letztlich ebenso vergangen sein würde wie jeder Gedanke an dich, vielleicht war es dann ein sinnvoller Tod, im Einklang mit diesem Augenblick der Erkenntnis: So wie es war, so war es gut. Du musst dich nicht fürchten, lass einfach los.
Du grübelst wieder. Er konnte Ginas Stimme beinahe hören, als sie diesen oft wiederholten Satz sagte. Nicht vorwurfsvoll, sondern einfach feststellend. Ja, er grübelte. Es gehörte zu seiner Natur, war untrennbarer Teil seiner selbst. Ein Teil, den er ebenso schätzte wie verfluchte. Schätzte, weil diese Art, sich auf seinen Gedanken und Gefühlen treiben zu lassen wie Holz in der Strömung eines Flusses, ihn oft zu neuen Erkenntnissen führte, ihm Klarheit und Einsicht bescherte. Verfluchte, weil diese Erkenntnisgewinne oft erschreckend waren, bizarr, ihn in ungeahnte Tiefen
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