Verfolgt im Mondlicht
im Zimmer ließ Kylie schaudern. Sie blinzelte und fixierte das Gesicht der Frau. Es bestand kein Zweifel. Es war Holiday.
Wut, Angst und Trauer machten sich in Kylie breit. »Okay, lass mich mal eine Sache klarstellen. Als ich dir gesagt habe, du sollst dein Gesicht in Ordnung bringen, habe ich nicht gemeint, dass du dir eins von jemand anderem leihen sollst.«
Der Geist hielt sich verdutzt die Hände an die Wangen. »Ist das nicht mein Gesicht?«
»Nein, das ist es nicht! Das ist das Gesicht von jemandem, der mir sehr nahesteht – und nichts für ungut –, aber ich mag es nicht sonderlich, dass du dir gerade das ausgesucht hast.«
»Ich bin so verwirrt.«
»Du hast eine Identitätskrise«, schlug Kylie vor und wünschte sich selbst inständig, dass sie recht hatte.
»Eine Identitätskrise«, wiederholte der Geist.
»Ja, und du musst unbedingt herausfinden, wer du bist und was ich für dich tun soll, denn sonst kann ich dir nicht helfen.«
»Es ist alles so verschwommen.« Sie schürzte die Lippen genau wie Holiday, wenn sie angestrengt nachdachte. Und verdammt, sie sah wirklich genau aus wie die Campleiterin. Sogar der Farbton ihrer grünen Augen stimmte überein.
»Vielleicht hast du recht«, meinte der Geist schließlich. »Ich erinnere mich daran, dass ich mich immer so gefühlt habe, als würde ich im Schatten von jemand anderem leben.«
»Das ist gut.« Kylie atmete auf.
»Es ist gut, dass ich im Schatten von jemand anderem gelebt habe?« Der Geist runzelte die Stirn. »Das scheint mir eher weniger gut zu sein.«
»Nein, ich … ich meine, es ist gut, dass du dich an etwas erinnern kannst.« Und in dem Moment ging Kylie auf, wie sie herausfinden konnte, ob dieser Geist nicht Holiday Brandon war. Kylie zog die Augenbrauen zusammen und fixierte die Stirn der Frau.
Das wunderliche Muster sah genauso aus wie Holidays. Kylie musste schlucken. »Du bist Fee?«
Die Geisterfrau schlug die Beine übereinander und stützte den Ellbogen auf das obere. Dann legte sie ihr Kinn in die Handfläche. Die Geste war so typisch für Holiday, dass Kylie vor Schreck der Atem stockte.
»Ja, bin ich.« Sie runzelte die Stirn und schaute Kylie an. »Oje, was bist du denn?«
Kylie zögerte. »Ich bin ein … Chamäleon.«
Der Geist zog eine Grimasse. »Du bist eine Eidechse?«
Kylies Miene verfinsterte sich für einen Moment. Doch sie hatte gerade andere Sorgen. »Kannst du dich an deinen Namen erinnern?« Gespannt hielt Kylie die Luft an.
Die Frau sah ihr tief in die Augen und zog dann erstaunt die Augenbrauen hoch. Doch statt etwas zu sagen, stand sie auf und ging zum Fenster. Schweigend starrte sie nach draußen und drehte sich erst nach einer Weile wieder zu Kylie um. »Jemand sucht dich.«
»Kannst du dich an deinen Namen erinnern?«, wiederholte Kylie ihre Frage.
Die Geisterfrau fuhr sich durch die langen roten Haare und drehte sie dann in den Händen zu einem dicken Strang. Genau wie es Holiday vor gar nicht allzu langer Zeit auf der Veranda getan hatte. Der Geist wandte sich an Kylie. »Sie wollen, dass du zu ihnen kommst.«
Kylie wurde mulmig zumute. »Lass uns mal lieber über dich sprechen«, wiegelte sie ab. Sie sagte sich, dass es besser war, ein Problem nach dem anderen anzugehen.
»Aber du bist doch viel interessanter. Du hast so viel Rätselhaftes an dir. So viele Fragen, die beantwortet werden müssen. Ich kann deine Gefühle lesen, weißt du? Feen können das. Wir spüren, was andere Leute fühlen.«
»Ich weiß«, entgegnete Kylie, frustriert darüber, dass der Geist nichts über seine Identität preisgab. Doch sie unterdrückte ihren Ärger, um vielleicht doch noch mehr zu erfahren. Denn sollte es sich wirklich um Holiday handeln, konnte Kylie vielleicht etwas tun, etwas verändern, um zu verhindern, dass …
»Früher konnte ich durch meine Berührung machen, dass es den Leuten besserging, aber das kann ich jetzt nicht mehr.«
»Wieso denn nicht?«
Die Geisterfrau runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr genau. Ich glaub, ich war böse.« Die grünen Augen des Geistes füllten sich mit Tränen. »Ich hab jemandem wehgetan.«
Kylie konnte den Schmerz und die Reue des Geistes spüren. Trotzdem fühlte sie sich durch die Beichte etwas erleichtert. Holiday würde nie etwas Böses tun. Sie war viel zu gutherzig. Sie hatte zu viel Mitgefühl.
»Vielleicht wolltest du ja niemandem wehtun«, versuchte Kylie zu helfen. Sie schlang sich fröstelnd die Arme um ihre angezogenen Beine.
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