Verführer der Nacht
dir ja gesagt, dass er sie zu seiner Sklavin machen würde.«
Ein Ausdruck von Schock und Schmerz lag in Pauls Augen, und ihm stand ins Gesicht geschrieben, wie sehr er das Verhalten seiner Schwester verurteilte. Colby zuckte innerlich zusammen, als sie seine angewiderte Miene sah. Bevor sie von Scham und Schmerz überwältigt werden konnte, beschwor sie ihre angeborene Macht herauf und ließ sie durch ihren Geist und ihren Körper strömen. Im Moment war es wichtiger, Paul zu retten, als die Wahl ihres Liebhabers zu verteidigen.
Der Untote gebraucht seine Stimme, um Paul zu beeinflussen, hörte sie Rafael sagen. Er ist ein uralter Meistervampir und nahezu unbesiegbar. Warte, bis ich meine Macht mit deiner vereinen kann.
Rafael stieß einen Seufzer aus. »Deine kleinen Spielchen langweilen mich, Kirja.«
Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen. Es schockierte Colby, wie leicht es ihr fiel, geistig mit ihm zu kommunizieren. Es schien ganz natürlich zu sein, als wären sie jetzt so eng miteinander verbunden, dass sie praktisch eine Person waren. Wenn Rafael Erfahrung im Töten von Vampiren hatte, würde sie ihm die Führung überlassen, aber er sollte sich lieber nicht zu viel Zeit lassen. Sie konnte die Macht in ihrem Inneren nicht immer bändigen, wenn sie wütend war, und im Moment war sie rasend vor Wut. Zu sehen, wie dieses gemeine Wesen mit scharfen Klauen über Pauls Kehle strich, brachte jeden Beschützerinstinkt in ihr zum Vorschein – und mehr Wut, als sie je geglaubt hätte, empfinden zu können.
Der Vampir stieß zwischen seinen scharfkantigen, bräunlichen Zähnen einen zischenden Laut aus. »Der große karpa-tianische Jäger – besiegt von seinen fleischlichen Gelüsten. Darin liegt wohl so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit.« Seine blutunterlaufenen Augen starrten Colby an. »Du kannst dich entscheiden, welchen von beiden du retten willst, deinen Liebhaber oder deinen geliebten Bruder.« Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht, und das Geräusch war so misstönend, dass Colby eine Gänsehaut überlief.
Nimm ein paar Hände voll Erde, so gehaltvoll wie möglich, und mische sie mit deinem Speichel. Mein Blut fließt in deinen Adern, und du hast jetzt dieselben heilenden Kräfte wie ich. Dann legst du die Erde auf die Wunde in meinem Rücken, aber so, dass der Vampir dich dabei nicht beobachten kann. Denk dran, deine Macht ist jetzt größer als früher, weil du dabei bist, Schritt für Schritt in unsere Welt einzutreten. Natürlich müssen wir den jungen retten. Denk nur daran, nicht an mich.
Was Rafael sagte, war ihr völlig unverständlich. Erde, auf die sie gespuckt hatte, auf eine offene Wunde packen? Colby erschauerte, als sie an die Bakterien dachte, die dabei in Rafa-els Blut gelangen würden. Eigentlich müsste er leblos am Boden liegen, statt kühl und gelassen dazustehen und absolut Herr der Lage zu sein. Sein Bewusstsein war fest mit ihrem verbunden; sie konnte fühlen, wie er ihr befahl, ihm zu gehorchen. Colby versuchte, nicht zu Paul zu schauen und nicht an die bösartigen, scharfen Krallen zu denken, die zum Töten bereit waren.
Kopfschüttelnd wich sie zurück, taumelte und stolperte in den tiefsten Schatten, während sie mit beiden Händen in die frische Erde hinter einem umgestürzten Baumstamm griff. Sie schluchzte laut auf und beugte sich vor, als müsste sie sich übergeben. In Wirklichkeit spuckte sie mehrmals auf die Erde, die sie erwischt hatte. Voller Angst um Rafael raffte sie sie hastig zusammen, während der Vampir leise knurrte und mit seinen hässlichen, fleckigen Zähnen in ihre Richtung schnappte.
»Steh auf!«, brüllte er. »Steh auf und triff deine Wahl, bevor ich es für dich tue!«
Colby erhob sich schwankend, achtete jedoch darauf, dass Rafael zwischen ihrem Bruder und ihr stand, als sie zu ihm ging. Mit geschlossenen Augen stopfte sie die Erde tief in die klaffende Wunde in Rafaels Rücken. Er zuckte nicht zusammen; mit keinem Zeichen verriet er etwas von den Schmerzen, die durch seinen Körper schießen mussten. Stattdessen schickte er ihr Wärme und Zuversicht.
»Es gibt keine Wahl«, sagte Rafael ruhig. Seine Stimme war schön, klar und fest und beinahe magisch. »Ich würde nie zulassen, dass das Leben eines Kindes gegen das meine eingesetzt wird.« Er schaute Colby nicht an, aber sie spürte ihn in ihrem Bewusstsein. Ich werde Paul aus seinem Griff befreien. Kirja wird den Angriff von mir erwarten, doch ich werde dich benutzen.
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