Verführer der Nacht
konnte seinen flachen Puls spüren, als er sich in ihrem Bewusstsein regte.
Seine Sorge galt nicht Paul, sondern seinem eigenen Bruder, Nicolas. Colby fühlte es, als wäre es ihre eigene Sorge. Sie spürte die Woge von Liebe und Wärme, die Jahrhunderte umfasste. Sie strömte in ihren Körper und erfüllte ihr Herz und ihre Seele, sodass sie am liebsten die Hand nach Nicolas ausgestreckt hätte, um ihn aufzuhalten. Was er tat, war gefährlich für ihn, nicht für Paul. Nicolas nahm freiwillig Vampirblut zu sich, obwohl er jede Minute eines jeden Tages gegen den Dämon kämpfte, der seine Seele bereits berührt hatte und um die Oberhand rang.
»Warte!« Colby konnte sich nicht zwischen Nicolas und Paul entscheiden – der eine war Rafaels Bruder, der andere ihr eigener. Sie schienen in ihrem Inneren miteinander zu verschmelzen. Pauls Leben gegen Nicolas' Seele. Es war eine furchtbare Entscheidung.
Macht euch keine Sorgen um mich, keiner von euch. Nicolas' Stimme strich durch ihren Kopf. Dir zuliebe werde ich durchhalten und zu unseren Brüdern zurückkehren, Rafael. Du teilst mit mir die Empfindungen, die du für diese Frau und diesen Jungen hast. Das wird mir Halt geben, bis ich in unserer Heimat bin. Schlaf jetzt, Rafael, und lass dich von der Erde heilen.
Durch ihre Verbindung zu Rafael konnte sie Nicolas' Liebe zu seinem Bruder fühlen. Es war ein eigenartiger Weg, den sie gemeinsam benutzten. Zum ersten Mal konnte sie in ihm etwas anderes als das herzlose Monster sehen, das versuchte, ihr ihre Geschwister zu entreißen. Nicolas war auf einmal real für sie, weil sie ihn mit Rafaels Augen sah. Erinnerungen an Nicolas tauchten auf, und sie wusste, dass Rafael sie absichtlich heraufbeschwor.
Wie oft hatte er sich zwischen Menschen und den Tod gestellt und dabei sein Leben und seine Seele aufs Spiel gesetzt? Wie oft hatte er versucht, Rafael und seine anderen Brüder vor den Auswirkungen seiner furchtbaren Kämpfe abzuschirmen? Unzählige Male war er verwundet worden; unzählige Male hatte er getötet und dabei einen Teil seiner Seele verloren.
Colby schloss die Augen. Sie wollte das alles nicht sehen, sie wollte ihn weiter für das gefühllose Raubtier halten, das sie zuerst in ihm gesehen hatte. Sie war ohnehin schon völlig durcheinander. Und da war Paul, der von Nicolas mit eisernem Griff gehalten und ausgesaugt wurde, bis Pauls Gesicht blass wurde und er in den Armen des Jägers zusammenbrach, schwindelig und geschwächt, aber immer noch so unnatürlich gefügig, wie Nicolas es von ihm erzwang.
Sie spürte es genau, als Rafael seinem Bedürfnis nach Ruhe und Heilung nachgab. Er zog sich aus ihrem Bewusstsein zurück und hinterließ eine schreckliche Leere in ihr. Colby ließ sich auf einen Ballen Heu sinken und presste beide Hände an ihren brennenden Magen, bevor sie wieder zu Nicolas und Paul schaute. Rafaels Bruder fuhr mit seiner Zunge über Pauls Hals und verschloss die Bisswunden, als wären sie nie da gewesen. Kein Mal war zu sehen. Überhaupt nichts. Ihre Hand stahl sich zu dem Mal an ihrem Hals, das nie zu verblassen schien.
Wir können ein Mal hinterlassen, wenn wir wollen, aber auch jede Spur verschwinden lassen. Nicolas las ihre Gedanken genauso mühelos wie Rafael, doch während es bei Letzterem eine intime Geste war, wirkte es bei Nicolas zudringlich. Seine kalten, schwarzen Augen, die ganz anders als Rafaels waren, glitten über sie. Wie einsam er wirkte und wie völlig isoliert von allem, was ihn umgab ! Rafael hat sein Mal sowohl als Zeichen seiner Bindung als auch als Warnung hinterlassen. Er wird dich beschützen, auch wenn er in der Erde ruhen sollte.
Sie erkannte den milden Tadel, doch zum ersten Mal war sie imstande, darüber hinaus die furchtbare Last zu sehen, die Nicolas trug. »Was musst du jetzt machen?«, fragte sie.
»Das Gift durch meine Poren austreten lassen und meinen Körper vom Schmutz des Vampirs befreien.« Paul stand immer noch unter seinem Bann. Nicolas half ihm, sich auf den Boden zu setzen. »Vampirblut brennt wie Säure. Der Junge hätte nicht lange durchgehalten. Doch da ist noch etwas, das mir noch nie begegnet ist.« Nicolas schloss die Augen und suchte in seinem Körper nach dem Mittel, das Paul infiziert hatte und sich jetzt in seinen eigenen Adern ausbreitete. »Hier ist noch etwas anderes, ein kleiner Parasit, der nicht da sein sollte. Er ist mutiert, ähnlich wie die Schlangen, die der Vampir benutzt hat, um Rafael anzugreifen.«
»Woher kam der
Weitere Kostenlose Bücher