Verführer der Nacht
Paul«, murmelte sie.
Als sie in die Scheune zurückkam, war Nicolas gerade dabei, Julio sanft an die Wand zu lehnen. »Geht es ihm gut?«
Nicolas wandte sich um und streifte sie mit einem so kalten Blick, dass sie Mühe hatte, ein Schaudern zu unterdrücken. »Ja, natürlich. Julio ist meine família und steht unter meinem Schutz. Normalerweise trinken wir nicht das Blut unserer menschlichen Freunde. Er hat dieses großzügige Angebot gemacht, als ich es dringend brauchte.«
»Rafael kannte den Vampir, Nicolas. Und der Vampir nannte ihn bei seinem Namen. Als sie miteinander kämpften, fühlte ich Rafaels Trauer ... mehr als Trauer.«
Zum ersten Mal war Nicolas' Miene nicht mehr ganz so eisig, als er sie anschaute. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie schwach an Rafael erinnerte, als hätten ihre Bemühungen, die Welt der Karpatianer zu verstehen, ihr so etwas wie Anerkennung eingetragen.
»Wir kannten einander als Jungen, damals, in den Karpaten.« Nicolas setzte sich neben Julio, um zu sehen, wie es ihm ging. Es war die erste wirklich menschliche Geste, die sie bei ihm erlebte. Seltsam – sie konnte nicht aufhören, Rafael als Menschen zu sehen, doch Nicolas empfand sie nie als menschlich. Sie beobachtete, wie er Julios Handgelenk nahm und seinen Puls kontrollierte.
»Mir geht es gut, Don Nicolas«, protestierte Julio.
»Du musst viel Wasser trinken und schlafen.«
»Ich habe noch zu tun«, wandte Julio ein. »Ich muss auf den Jungen aufpassen.«
»Darum kann sich Juan kümmern«, sagte Nicolas. »Du gehst zu Bett.«
»Keine Sorge, Julio«, beruhigte Colby ihn. »Ich kann auch auf Paul aufpassen. Ich weiß, dass er gefährlich werden kann, und werde sehr vorsichtig sein.«
»Sie müssen tun, was Juan sagt«, ermahnte Julio sie.
Juan kam herein, noch während Julio sprach, und half seinem Bruder sofort auf. »Ich bringe ihn ins Haus.«
»Das mittlere Schlafzimmer ist das Gästezimmer«, erklärte Colby. Sie wollte und musste mehr erfahren, und aus irgendeinem Grund half ihr Nicolas' Anwesenheit, den Kummer zu lindern, der sie zeitweise überfiel. Sie schaute den Brüdern Chevez nach. »Gute Männer, die beiden.«
»Ja, das sind sie, und das ist kein kleines Kompliment«, sagte Nicolas. »Ich kann in ihnen lesen und kenne die Ehre und Integrität dieser Männer.«
»Erzähl mir etwas über den Vampir. Wer ist er?«
»Wer war er – diese Formulierung wäre eher angebracht. Das Erste, was man als Jäger lernen muss, ist, den Mann, den man als Freund gekannt und geliebt hat, von dem Monster zu unterscheiden, das dich mit dem festen Vorsatz, dich zu töten, bekämpft. Kirja ist so ein Mann. Seine und meine Brüder waren beste Freunde. In unserer Gesellschaft sind derart enge Freundschaften eher unüblich, aber bei unseren Familien war es so. Unsere Eltern waren befreundet, und wir wurden sehr ähnlich aufgezogen.« Er stieß einen leisen Seufzer aus. »Wir waren alle sehr ehrgeizig und ein bisschen wilder als die anderen und rebellierten öfter gegen unsere gesellschaftlichen Regeln, deshalb hielten wir zusammen. Kirja und Rafael waren besonders gut befreundet. Sie steckten ständig in irgendeiner Klemme und wetteiferten dauernd darum, bestimmte Fertigkeiten vor dem anderen zu erlangen. Es war eine gute Zeit, obwohl meine Erinnerungen allmählich verblassen. Rafael und Riordan haben diese Erinnerungen für den Rest von uns wach gehalten.« Nicolas vergrub sein Gesicht in den Händen und rieb sich die Schläfen.
Nicolas. Wieder wehte Rafaels Stimme durch Colbys und Nicolas' Bewusstsein. Du bist müde. Ruh dich aus.
»Er klingt so schwach, so weit weg von uns.« Colbys Herz schlug unruhig.
Nicolas hob den Kopf und lehnte sich an die Wand. Du ruhst nicht in dem tiefen Schlaf, den du brauchst. Soll ich dir befehlen, zu schlafen, Rafael P Warum beharrst du auf diesem leichten Schlaf obwohl du weißt, dass du schwer verwundet bist? Die Schärfe, die wieder in Nicolas' Stimme lag, ließ Colby zusammenzucken.
Diejenigen, die ich liebe, sind über der Erde und angreifbar, und ich will es hören, wenn sie mich brauchen. Allmählich verstehe ich, warum meine Gefährtin sich sträubt, ihr Leben mit meinem zu verbinden. Es ist die Hölle, hilflos in der Erde zu liegen, während die, die du liebst, in Gefahr sind. Rafaels Stimme war kaum zu hören, aber er klang ruhig, fast friedlich.
Ruh dich jetzt aus, Rafael, sonst mache ich genau das, was du mich gebeten hast, nicht zu tun, und breche mein Versprechen
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