Verführer der Nacht
in der Luft. Es war kaum merklich, nur ein Hauch von Macht, ein Suchen, und so schwach, dass er keine Richtung ausmachen konnte, doch er fühlte die Nähe von etwas Bösem. Sofort nahm er Verbindung zu seinem Bruder auf.
Ein Vampir, Nicolas. Einer vom alten Stamm mit sehr viel Macht. Der Tag bricht bald an, aber er hat sich noch nicht in die Erde zurückgezogen, und er weiß, dass wir in seiner Nähe sind. Seine Macht ist kaum zu spüren, und ich finde keine Hinweise, wo ich mit der Suche beginnen soll.
Deine Frau zieht ihn an. Du musst sie umwandeln und zu uns nach Hause bringen.
Nicolas' Stimme klang müde, als hätte sein Kampf gegen die Dunkelheit schon zu lange gedauert. Als würde er langsam aufgeben.
Du hast deine Kraft eingesetzt, um mich vor der Dunkelheit zu bewahren, sagte Rafael.
Du bist so nahe dran. Sie hilft dir nicht, wenn sie gegen dich kämpft. Nimm die Frau und lass uns von hier verschwinden und nach Hause zurückkehren, wo wir hingehören. Ich werde den Vampir jagen, während du dich um die Frau kümmerst.
Rafael dachte über den Vorschlag seines Bruders nach. Jedes Mal, wenn sie töten mussten, wurde die Dunkelheit in ihren Seelen größer, bis irgendwann nichts mehr von dem blieb, was sie einmal gewesen waren. Nicolas war ausgehöhlt und schon viel zu lange einsam. Rafael hatte jetzt einen Halt. Wenn er Colby für sich beanspruchte und sie an sich band, konnte er ungefährdet den Vampir jagen. Nicolas und er wären beide davor gefeit, auf die Seite der Untoten überzuwechseln.
Den hier werde ich jagen, Nicolas. Er ist mächtig und hält sich versteckt, aber ich habe seine Witterung aufgenommen. Er wird der Gerechtigkeit unseres Volkes nicht entkommen. Er verhält sich nicht normal. Es gibt keine unerwarteten Todesfälle, keine Morde. Der ermordete Mann wurde von einem Menschen getötet, nicht von einem Vampir. Und ich habe eine Frau mit übernatürlichen Fähigkeiten getroffen. Sie wusste, was ich war. Hier geht irgendetwas vor, was ich nicht verstehe.
Ich komme, wenn du mich brauchst.
Rafael wollte Nicolas fernab der Gefahren einer Jagd wissen. Ich rufe nach dir, falls ich Hilfe brauche. Er brach die Verbindung zu seinem Bruder ab und entfernte sich rasch von der Ranch, um die Spur des Vampirs aufzunehmen und jene verräterische Leere zu finden, die auf das Versteck des Untoten hinwies. Er witterte das Böse, den Geruch von Fäulnis und Tod, aber er konnte das, was in der Luft hing, nicht verfolgen. Es gab keine Richtung, nichts, was als Spur hätte dienen können, nur die absolute Gewissheit, dass ein Vampir in der Gegend war. Alle waren in Gefahr.
Rafael fand in einer kleinen Stadt Nahrung und sättigte sich, um wieder zu Kräften zu kommen. Er würde sie in den nächsten Tagen brauchen. Und er würde all seinen Mut benötigen, um Colby entgegenzutreten, nachdem er ihr Leben für alle Zeiten verändert hatte.
Kapitel 6
C olby warf sich im Bett unruhig hin und her, als ein Geräusch wie das hartnäckige Schrillen eines Weckers immer wieder in ihre Träume drang. Sie brauchte einen Moment, ihre Benommenheit abzuschütteln. In ihrem Kopf hämmerte es, und im Mund hatte sie einen leicht metallischen Geschmack. Ihr Körper fühlte sich anders als sonst an: schwer und wund und ziemlich zerschlagen. Aber sie wusste sofort, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sämtliche Alarmglocken in ihrem Inneren schlugen an, als sie endlich zu sich kam. Ein hoher, gellender Schrei aus weiter Ferne, dem ein ohrenbetäubendes Krachen folgte, ließ sie abrupt hochfahren, die Decke zurückschlagen und hastig in ihren Schlafanzug schlüpfen. »Paul! Ginny!« Mit nackten Füßen rannte sie los.
Ihr Gehör und ihr Geruchssinn schienen zehn Mal schärfer geworden zu sein. Sie fühlte sich zittrig und schwindelig, und ihr Mund war trocken. Nackte Panik ergriff sie. Sie riss die Haustür auf, blieb wie angewurzelt auf der Veranda stehen und starrte entsetzt auf das Flammenmeer, in das sich ihr Stall verwandelt hatte. »Paul! Die Pferde!« Ihr fassungsloser Schrei verlieh ihrem Bruder Flügel, sodass er fast noch vor ihr über den Hof jagte.
Dichter Rauch hing in der Luft, Flammen schossen in den Himmel, und Funken flogen in alle Richtungen. Colby, die vor Angst schluchzte, als sie das panische Wiehern der Pferd hörte, packte mit bloßen Händen den Metallriegel, der die Stalltür verschloss. Sie hörte ihren qualvollen Schrei und glaubte wie aus weiter Ferne Rafaels Stimme zu hören, aber die Schmerzen
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