Verführer oder Gentleman? (German Edition)
seinen Wagen und befahl dem Kutscher, nach Lansdowne House zurückzufahren.
Robby stellte seine Schwester auf die Füße, und sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.
„Oh, ich kann gar nicht beschreiben, was ich empfand, als ich deinen Brief las, Robby! Wie wundervoll, dass du dem Gefängnis endlich entronnen bist! Aber … wie kam es dazu? Du solltest erst in sechs Monaten entlassen werden.“
Grinsend legte er ihre Hand in seine Armbeuge. „Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen, und ich erzähle dir alles.“
Ein paar Minuten später saßen sie im Schatten einer mächtigen Eiche, am Rand einer Wiese. Voller Stolz betrachtete Juliet ihren Bruder. Genauso stellte man sich einen aufstrebenden jungen Gentleman vor. Attraktiv, in eleganter neuer Kleidung, würde er das Interesse so mancher jungen Dame wecken. Er war immer noch ziemlich dünn, nachdem er so lange im Gefängnis gesessen hatte. Aber er wirkte kerngesund, und seine Augen leuchteten vor Lebensfreude. Offensichtlich war er sehr zufrieden mit der Welt und der Position, die er darin einnahm.
„Nun erzähl mir, was geschehen ist“, bat Juliet, beglückt, weil sie ihren Bruder in so heiterer Stimmung sah. Inständig hoffte sie, mit seiner Freilassung wäre alles mit rechten Dingen zugegangen und er müsste nicht ins Fleet zurückkehren. „Wieso wirst du nicht mehr gefangen gehalten?“
„Keine Bange, Juliet, ich bin nicht geflohen. Ich wandte mich nur an einige Freunde, die mir einen Gefallen schuldig waren. Dass sie mir tatsächlich das nötige Geld gaben, verblüffte mich. Doch ich war überglücklich. Nachdem ich meine Schulden beglichen hatte, durfte ich dieses Höllenloch verlassen.“
„Wenn sie dir Geld schuldig waren – warum hast du die Rückzahlung erst jetzt verlangt?“
„Weil ich nicht wusste, wo sie steckten. Eines Tages besuchte mich ein Freund in meiner Zelle und teilte mir mit, die beiden, die mich nach Italien begleitet hatten, würden sich wieder in London aufhalten. Damals hatte ich ihnen Geld geliehen, weil sie gerade knapp bei Kasse gewesen waren. Nun schrieb ich ihnen, und sie bezahlten ihre Schulden. Das sind wirklich nette Gentlemen aus gut situierten Familien. Als ich meine eigenen Schulden beglichen hatte, blieb sogar noch eine größere Summe übrig. So mittellos, wie du dachtest, bin ich nicht.“
Seufzend tätschelte Juliet seine Hand. Niemals würde er wissen, welche Ängste sie bei seiner Festnahme ausgestanden hatte.
„Ich wünschte nur, sie wären schon früher nach London zurückgekehrt“, erwiderte sie. „Was sie dir schuldeten, hätte dir die lange Haft – und mir eine Menge Geld – erspart.“ Voller Zuneigung musterte sie ihren Bruder. „Aber ich weine keinem einzigen Penny nach, den ich für dich ausgab, Robby. Ich bin so froh, dass du deine Freiheit wiedererlangt hast. Und ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt und wirst eine gute Stellung antreten. Außerdem musst du zunehmen. Schau dich an, du bist viel zu mager.“
„Wenn ich genug zu essen kriege, werde ich bald ein paar Pfunde zulegen. Übrigens, das wird dich freuen – ich habe bereits eine Stellung gefunden.“
„Oh, tatsächlich?“ Freudestrahlend umarmte sie ihn. „Wo denn?“
Bevor er die Wahrheit gestand, nahm sein Gesicht ernste Züge an, denn er wusste nicht, wie seine Schwester die Neuigkeit aufnehmen würde. „In Amerika, Juliet, in New York“, antwortete er leise. „Dort lebt jemand, den ich kenne. Er leitet eine Knabenschule, und er hat mir die Position eines Geschichts- und Englischlehrers angeboten.“
Wie gelähmt vor Entsetzen starrte sie ihn an. Der Atem stockte ihr, dann brannten Tränen in ihren Augen. „In Amerika? Aber … das ist so weit weg … Oh, Robby, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Dass du dich für mich freust. Es ist eine wunderbare Chance. Wegen meiner Gefängnisstrafe würde ich in England keine so gute Stellung bekommen.“
Energisch riss sie sich zusammen. „Da hast du recht. Natürlich freue ich mich. Und ich bin stolz auf dich, obwohl du mir fehlen wirst. Nur um eins bitte ich dich – in Zukunft musst du auf deine wilden Eskapaden verzichten. Wohin sie führen, hast du ja auf schmerzhafte Weise erfahren.“
„Ja, das weiß ich, Juliet“, beteuerte Robby. „Nie wieder werde ich ein solches Risiko eingehen. Die Monate im Gefängnis haben mir vollauf genügt. Ein zweites Mal werde ich sicher nicht hinter Gittern landen. Es ist furchtbar schwer, den Gefängnisgestank
Weitere Kostenlose Bücher