Verführer oder Gentleman? (German Edition)
darüber informieren möchten – in der Bibliothek gibt es einen noch aufschlussreicheren Bericht.“
„Lesen Sie gern solche historischen Werke?“
„O ja, diese Vorliebe habe ich von meinem Vater geerbt.“
„Verbrachte er sein ganzes Leben in Oxford?“
„Zum Großteil“, erwiderte Juliet vorsichtig.
„Hatte er keine Familie? Keine Geschwister?“
Als sie ihn wieder ansah, erschien ihm ihre Miene so ausdruckslos wie die Gesichter der Statuen, die seinen Park schmückten. „Mein Vater war verwaist.“
Sie senkte den Kopf und betrachtete das Buch in ihren Händen. Nachdenklich studierte Dominic ihr Profil. Zum hundertsten Mal fragte er sich, was hinter ihrer ruhigen Fassade vorgehen mochte. Er wollte wissen, was sie dachte, was sie empfand. Für ihn war sie ein Mysterium, ein Rätsel, das er zu lösen suchte.
„Und Ihre Mutter?“
Juliet klappte das Buch zu, ihr Blick schweifte in die Ferne. Über ihre Eltern mochte sie nicht reden, schon gar nicht über die Familie ihrer Mutter – über die Schmach, von ihrem Großvater nicht anerkannt zu werden. Von dem Mann, der ihre Mutter enterbt hatte, weil sie mit der Liebe ihres Lebens durchgebrannt war …
Erst nach einer langen Pause erklärte sie: „Meine Mutter sprach nie über ihre Familie.“
„Irgendwann muss sie etwas erzählt haben.“
In die Enge getrieben, hob Juliet den Kopf, mit einem gebieterischen Stolz, der beinahe den Anschein erweckte, ihre Mutter hätte eine Krone getragen.
„Soviel ich weiß, stammte sie aus Schottland, und mein Großvater enterbte sie, nachdem sie mit meinem Vater die Flucht ergriffen hatte. Sie war die liebevollste, fürsorglichste Mutter, die ich mir nur wünschen konnte. Als sie starb, vermisste ich sie schrecklich.“
„Lebt Ihr Großvater noch?“
„Ja.“
„Weiß er Bescheid über Ihre Existenz?“
„Ja.“
„Sind Sie sein einziges Enkelkind?“
„Das bin ich.“
„Und er hat nicht versucht, Verbindung mit Ihnen aufzunehmen?“
„Niemals. Mein Vater schrieb ihm, um ihm den Tod meiner Mutter mitzuteilen. Daraufhin erhielt er einen kurzen, sachlichen Brief vom Anwalt meines Großvaters. Zu weiteren Kontakten kam es nicht.“
„Glauben Sie nicht, Ihr Großvater möchte Sie jetzt, nachdem Ihr Vater gestorben ist, endlich kennenlernen?“
Seufzend schaute sie auf ihre Hände hinab. „Um die Wahrheit zu gestehen – ich weiß es nicht.“
„Er glaubt vielleicht, Sie würden keinen Kontakt wünschen. Nach dem Zwist, von der Flucht Ihrer Mutter verursacht, könnte er befürchten, Ihr Vater hätte Sie gegen ihn aufgehetzt.“
„So etwas hätte mein Vater niemals getan. Der Bruch zwischen seiner Frau und seinem Schwiegervater bedrückte ihn schmerzlich, und er gab sich die Schuld daran.“
„In solchen Fällen muss man wohl vermuten, jede Annäherung wäre unwillkommen. Ist der Riss erst einmal entstanden, lässt sich der Schaden nur schwer beheben. So, wie ich die Situation sehe, liegt es bei Ihnen, eine Versöhnung mit Ihrem Großvater herbeizuführen – mag es gelingen oder auch nicht. Ich persönlich würde im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entscheiden. Und ich finde, Sie sollten ihn besuchen.“
„Nein.“
„Er ist Ihr Verwandter.“
„Nur mein Halbbruder ist mein Angehöriger. Einen anderen akzeptiere ich nicht.“
„Aber Sie sind das einzige Enkelkind Ihres Großvaters, Miss Lockwood.“
„Nun, das ist sein Problem. Nicht meines.“
„Und wenn er stirbt? Was werden Sie dann empfinden, nachdem Sie nicht einmal den Versuch unternommen haben, ihm die Hand zu reichen?“
„Das weiß ich nicht. Wie auch immer – ich kann ihm nicht verzeihen.“
Eine Zeit lang schwieg Dominic, dann beteuerte er: „Als ich nach Ihren Eltern fragte, wollte ich mich nicht in Ihr Privatleben einmischen, Miss Lockwood. Falls ich schmerzhafte Erinnerungen heraufbeschworen habe, entschuldige ich mich. Dieses Thema schnitt ich nur an, weil es mich bekümmert, eine junge Dame zu sehen, die schutzlos gezwungen ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.“
„Sorgen Sie sich nicht um mich, Lord Lansdowne“, bat Juliet mit einem leichten Lächeln. „Ich bin durchaus fähig, auf mich selber aufzupassen, und ich arbeite sehr gern. Übrigens, wie geht es dem Fohlen?“
„Es wächst und gedeiht, und es läuft schon fröhlich auf der Koppel herum. Eines Tages wird der kleine Hengst ein prächtiges Jagdpferd abgeben. Besuchen Sie ihn doch.“
„O ja, das werde ich tun.“
„Und Sie nehmen die
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