Verführer oder Gentleman? (German Edition)
worden? Ob jemand gesehen hatte, wie sie mit dem Duke in den Stall gegangen war, wusste sie nicht. Nun hoffte sie inständig, niemand hätte ihre überstürzte Flucht bemerkt.
Müde, gesättigt und immer noch fröhlich, machten sich die Festgäste auf den Heimweg. Einige waren ziemlich betrunken. Aber sie benahmen sich halbwegs gesittet. Juliet hatte Dolly bald gefunden. Gemeinsam gingen sie zum Herrschaftshaus, hinter Dienstmädchen, Lakaien und anderen Leuten, die auf dem großen Landsitz arbeiteten.
Juliet wusste, dass sie diesen Abend lange nicht vergessen würde. In vielerlei Hinsicht war er ein erfreuliches Zwischenspiel gewesen. Allerdings – die Absichten Seiner Gnaden, als sie mit ihm den Stall verlassen hatte … Nein, daran wollte sie nicht denken.
Bei schönem Wetter befolgte Juliet den guten Rat Lady Pembertons und unternahm lange Spaziergänge. In der Umgebung von Lansdowne House, der wichtigsten Residenz der Familie Lansdowne, gab es zahlreiche besonders schöne Fleckchen Erde. Das stattliche Gebäude und der ausgedehnte Park wurden allgemein bewundert, ein Ergebnis der Neugestaltung, die der Vater und der Großvater des derzeitigen Dukes vorgenommen hatten.
In einem Teil des Gartens, von Hecken umschlossen, mit einem Rasen, einem kleinen Brunnen und weiß gestrichenen Bänken, fühlte Juliet sich am wohlsten.
Eines Nachtmittags wanderte sie wieder einmal zu ihrem Lieblingsplätzchen, ein Buch in der Hand, und ließ sich auf einer der Bänke nieder. Sie wandte dem kleinen Gatter, das in die Hecke eingelassen war, den Rücken zu. Deshalb sah sie nicht, wer zu ihr kam, als sie ein Klicken hörte. Doch sie wusste es, weil ihr Herz die Nähe des Dukes spürte.
„Hierher ziehen Sie sich also zurück, wenn Sie nicht arbeiten, Miss Lockwood.“
„Ja, ich sitze sehr oft auf einer dieser Bänke. Die Atmosphäre rings um den Brunnen ist so friedlich und geruhsam.“
„Stört es Sie, wenn ich für eine Weile bei Ihnen Platz nehme?“
Das Buch lag geöffnet auf ihrem Schoß. Seit dem Erntefest sah sie heute ihren Arbeitgeber zum ersten Mal. Wann immer sie an den Blick dachte, den er ihr beim Verlassen des Stalls zugeworfen hatte, stieg brennende Hitze in ihre Wangen.
„In mancher Hinsicht sind Sie ein komplizierter Mann, Lord Lansdowne – wenn ich das sagen darf.“
„Natürlich, ich weiß es zu schätzen, wenn jemand seine Meinung freimütig äußert.“
„Oh, ich auch … Am Abend des Erntefests haben Sie sich mir gegenüber – ungehörig aufgeführt, Lord Lansdowne. Und ich erinnere mich immer noch an Ihre ungerechtfertigten Bemerkungen nach Lord Charles’ Besuch in der Bibliothek. Falls Sie also planen, sich wieder so zu verhalten, wäre es mir lieber, Sie würden gehen“, wagte sie hinzuzufügen. „Aber wenn Sie mir höflich begegnen möchten, können Sie hierbleiben.“
Seine Mundwinkel zuckten und verrieten seine Belustigung. „Danke, ich werde mich so charmant benehmen, wie es meine Natur erlaubt.“
Unsicher schaute Juliet zu ihm auf. „Das ist Ihr Garten, Lord Lansdowne. Bitte – setzen Sie sich, wenn Sie es wünschen. Und sollten Sie glauben, ich müsste arbeiten, statt dem Müßiggang zu frönen – nachdem ich den ganzen Vormittag in der Bibliothek verbracht habe, steht mir ein bisschen Freizeit zu.“
„Mein … ungehöriges Verhalten am Abend des Festes hat Sie offenbar gekränkt, Miss Lockwood, und ich möchte mich entschuldigen. Wie Sie damals sagten …“ In seinen Augen schienen silberne Pünktchen zu tanzen. „Wahrscheinlich hatte ich zu viel Apfelwein getrunken. Der muss stärker gewesen sein, als ich dachte. Außerdem bitte ich Sie, meine schroffen Worte in der Bibliothek zu verzeihen. Tut mir leid, wenn ich Sie verärgert habe.“
„Seien Sie versichert, Ihr Tadel war ungerechtfertigt, und ich begreife beim besten Willen nicht, warum Sie so wütend waren.“
„Nein“, bestätigte er leise und schaute direkt in ihre Augen. „Das können Sie nicht verstehen. Wie hart Sie arbeiten, weiß ich, Miss Lockwood, und es freut mich, wenn Sie sich die Freizeit gönnen, die Sie brauchen.“ Er hoffte, sie würde verraten, was sie an jenem Nachmittag in die Stadt geführt hatte – zu der Begegnung mit dem jungen Mann, der ihr anscheinend viel bedeutete. Doch sie gab keine Erklärung ab, und das enttäuschte ihn.
„Danke, Lord Lansdowne, daran werde ich denken. Wieso wussten Sie, wo Sie mich finden würden?“
„Dass Sie hier sind?“
„Ja.“ Sie
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