Verführt: Roman (German Edition)
scheuchte ihn geistesabwesend weg und hielt zusammen mit den anderen Gästen den Atem an, ob der mysteriöse Fremde es wohl wagte, mit einem Kuss den Zauberbann zu brechen.
Gilligan interessierte sich nicht für Küsserei. Seine Aufmerksamkeit galt längst einer Gestalt, die sich leise die Treppe herunterschlich. Der Mann entdeckte seinerseits das Baby mit den weit aufgerissenen Augen und legte bittend den Finger auf den Mund.
Doch Gilligan zog den Daumen aus dem Mund, zeigte auf den Neuankömmling und quietschte die ersten verständlichen Worte, die man je von ihm gehört hatte.
»Guck, Sillwie! Cäp’n Doom.«
15
Auf Gilligans Freudenschrei folgte ein weiterer Laut, den Lord Howells Gäste nie zu hören erwartet hätten – das fröhliche, glockenhelle Lachen Lucinda Snows. Der Fremde auf den Stufen erstarrte; die Aufmerksamkeit der Menge war ihm zur Falle geworden.
Er sah aus, als sei er einem Theaterplakat des Royal Circus für ein Piraten-Melodram entstiegen. Von der grässlichen Augenklappe bis zum struppig verfilzten Bart und den sechs Schießeisen im Pistolengurt über der Brust – er bediente jedes Klischee, das die Menschheit zum Thema Piraten kannte, und dies mit solch einem eklatanten Mangel an Geschmack, dass sich selbst Lady Howell vor Abscheu schüttelte.
Fehlte gerade noch das Entermesser zwischen den schwarzen Zähnen oder die hanfene Zündschnur unter dem missgestalteten Hut. Wäre er mit dem eigenen Kopf unter dem Arm hereingewankt, er wäre als Blackbeards Geist durchgegangen.
Mit dem eleganten, ruchlosen Krieger, auf den Lucy an Bord der Retribution getroffen war, hatte er ebenso wenig gemein wie Lucy mit den unerschrockenen Heldinnen aus Mrs. Edgeworths Schauerromanen.
Sie klammerte sich an Gerards Arm und japste: »Oh, es tut mir Leid, aber das ist einfach zu viel. Dieser Hanswurst ist nun wirklich nicht Captain Doom.«
Sein muskulöser Unterarm war unter ihrer Hand erstarrt. »Das würde ich auch meinen.«
Lucy bekam schon wieder einen Lachkrampf. »Wenn der Admiral nur hier geblieben wäre! Können Sie sich vorstellen, was er davon gehalten hätte?«
»Nur allzu gut.«
Lucy begriff, dass Gerard genauso wenig amüsiert war, wie ihr Vater es gewesen wäre. Die Augen unter der Maske hatten sich zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Dass Gerard ausnahmsweise einmal nicht auf sie wütend war, wirkte so befreiend, dass Lucy nicht im Geringsten beunruhigt war.
Die Gäste bedankten sich bei dem Neuankömmling mit höflichem Applaus für das originelle Kostüm. Das Orchester stimmte einen mitreißenden Marinemarsch an, und die Howell-Buben machten sich davon, um den Möchtegernpiraten unter die Lupe zu nehmen.
»Entschuldigen Sie mich.« Gerard löste sich von Lucy. »Ich sehe lieber nach, ob unser Gastgeber jemanden braucht, um diesen Kerl hinauszuwerfen.«
Lucy ging ihm langsam nach und stellte überrascht fest, dass sie ein wenig unsicher auf den Füßen war. Obwohl die Walzerklänge verstummt waren, war ihr, als drehte sich der Ballsaal immer noch. Oder vielleicht ihr Kopf? Sie schlug die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu ersticken.
»Ha! Meine Freunde!«, grölte der Pirat den Howell-Söhnen entgegen. »Da will ich doch Mast- und Schotbruch erleiden, wenn das nicht die feinsten Jungs diesseits von Madagaskar sind! Wer von euch heuert als Erster bei mir an?«
Christopher Howell hob schüchtern die Hand. »Ich, Sir, wenn es recht ist.«
Sylvie stand zwar hinter ihren Brüdern, aber das hinderte Gilligan nicht daran, sich eine verfilzte Strähne des Piratenbarts in den Mund zu stecken.
Der Kerl bohrte dem Baby den Finger ins weiche Bäuchlein. »Kann Kinder nicht ausstehen. Es sei denn zum Abendessen.« Er warf Sylvie eine unverschämte Kusshand zu. »Und zum Dessert ein hübsches Mädel.«
Sylvie errötete, während ihre Brüder sich vor Lachen krümmten.
Lord Howell versuchte, unter die zerschlissene Augenklappe zu linsen. »Das bist doch du, Georgie, gib es zu. Eine einfache Halbmaske hätte völlig gereicht. Nur damit die Kinder ihren Spaß haben, einen solchen Aufwand zu betreiben! Als wären sie nicht schon verwöhnt genug!«
Layne, schlaksig und gerade vierzehn Jahre alt, schnappte sich eine der altertümlich aussehenden Pistolen und schaute in den Lauf. »Sieht ziemlich beeindruckend aus, Vater. Man könnte fast glauben, die wäre echt.« Er fixierte durch die verrostete Zieloptik seine herannahende Mutter.
Gerard riss ihm die Waffe aus der Hand. Lucy war
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