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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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in unserer Welt kostbarer als Informationen. Jemand, der sich zwischen beiden Welten bewegen kann – eine solche Person könnte, immer vorausgesetzt, sie wüsste, wem sie solche Informationen anvertrauen sollte, unschätzbar sein.«
    Langsam begann sich ein Bild für Bellino abzuzeichnen, und es war nicht das, mit dem sie gerechnet hatte. Aber es ließ sie seine Geschichte über Gifte verstehen und seine Bemerkung über Geheimnisse. Spione und Zuträger waren in Opern und in der Commedia dell’Arte immer sinistre Figuren, aber sie tauchten ständig darin auf.
    Sie dachte daran, wie der venezianische Matrose Angst davor gehabt hatte, Casanova könnte für die Staatsinquisition von Venedig arbeiten.
    Wozu ein Heeresverpfleger Spione brauchte, die Mann und Frau zugleich sein konnten, war für sie auf den ersten Blick nicht zu erkennen, aber Don Sanchos Amt mochte sehr wohl nur eine Maske für weit mehr sein, ganz wie ihr eigenes Äußeres. Wenn er die Wahrheit über Gifte und die alten Familien in Neapel gesagt hatte, dann war es allerdings höchst gefährlich, für ihn zu arbeiten. Und wie sah das Leben eines Spions überhaupt aus? Man hörte Geheimnisse und gab sie weiter? Was für Geheimnisse? Und was geschah mit den Menschen, die Geheimnisse hatten? Wenn ihr eigenes Geheimnis im Kirchenstaat offenbar wurde, dann musste sie günstigstenfalls nur mit dem Ende aller Auftrittsmöglichkeiten dort rechnen. Angenommen, sie entdeckte ein solches Geheimnis bei einer anderen Person und verriet es, so wäre sie imstande, das Leben eines Menschen zu ruinieren.
    Sie öffnete den Mund, um höflich, aber bestimmt abzulehnen, und schloss ihn wieder. Don Sancho hatte ihr kein Ultimatum gestellt. Er hatte nicht versucht, sie zu erpressen. Er war bisher nichts als höflich und zuvorkommend gewesen. Daher verdiente er mehr als ein sofortiges Nein. Sie konnte sich zumindest den Anschein geben, als dächte sie über sein Angebot nach.
    »Unschätzbar?«, wiederholte sie also vorsichtig. »Dabei hatte ich den Eindruck, dass in unserer Welt alles schätzbar ist. Vor allem, wenn es um Unterhalt und Entgelt für Gefahren geht und das Wandern zwischen Welten sich doch so anhört, als ob es mit sehr viel Reisekosten verbunden ist. Ich kann nur wiederholen, Don Sancho, Sie geben einem das Vertrauen in die Menschheit zurück.«
    Mit einem kleinen genügsamen Lächeln entgegnete er: »Nun, über Reisekosten … und andere Kosten … ließe sich gewiss reden.«
    »Das hat mir der hiesige Impresario auch versichert, bevor er mich meine Kostüme selbst zahlen ließ«, sagte Bellino, ehe sie sich zurückhalten konnte. Es war nicht nur ein Scherz. Die wenigsten Theaterbesitzer kamen für Kostüme auf, aber der von Ancona hatte es eigentlich versprochen, nur um sein Wort zu brechen, und er hatte sich sehr bitten lassen, bis er wenigstens für die Postkutsche zahlte.
    »Da sehen Sie, dass man sich auf die Theaterwelt allein eben nicht verlassen kann«, versetzte Don Sancho sofort geschmeidig.
    »Das mag sein, aber ihr gehört nun einmal mein Herz«, sagte Bellino sehr ernst und ließ das Geplänkel für den einen Moment fallen. »Ganz gleich, ob meine Träume alle wahr werden oder nicht, ein Leben, in dem die Musik nicht an erster Stelle kommt, wäre für mich nicht lebenswert.«
    Und die Liebe?, fragte Cecilias Stimme in ihr. Hast du die Liebe aufgegeben?
    Ich bin nicht mehr wie du, antwortete Bellino ihr in Gedanken, wie sie es laut nicht vermocht hatte . Ich bin kein blauäugiges Mädchen mehr, das nicht versteht, wie die Menschen einander verlassen können – durch den Tod oder weil sie etwas finden, das ihnen wichtiger ist, oder aus Langeweile. Die Musik wird mich niemals verlassen.
    »Sie könnten Ihre Stimme verlieren«, sagte Don Sancho, als läse er ihre Gedanken. »Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Wenn Sie nicht jung sterben, was wir nicht hoffen wollen, dann werden Sie irgendwann gebrechlich werden und nicht mehr mit der Lungenkraft Ihrer Jugend die Tonleitern erklimmen. Ganz zu schweigen davon, dass ein Publikum, verzeihen Sie mir die Offenheit, sich immer gerne am Anblick der Jugend weidet und selten an dem der Menschen in meinem Alter, die daran erinnern, dass auch sie sterblich sind.«
    Damit hatte er natürlich recht. Aber sie war noch keine zwanzig Jahre alt. Dreißig zu sein lag schon in gewaltiger Ferne. Vierzig, fünfzig, gar sechzig, das schien biblisch. Es war schwer, sich in einen Körper hineinzudenken, der sie durch den

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