Verfuehrung
mich, dass ich in ihrer Gesellschaft immer ruhig speisen und reisen kann.« Eine ganze Weile lang schwieg er, dann meinte er: »Ich muss sagen, die Möglichkeit, dass alles bisher nur Reiseübelkeit war, verstört mich. Es gibt einem doch die Bestätigung, nicht umsonst zu leben, wenn man so sehr gehasst wird, dass einen die Menschen tot sehen wollen.«
Wenn er sich nicht bisher so völlig frei von Humor gezeigt hätte, dann hätte Calori dies als Zynismus oder Scherz aufgefasst. Doch der Herzog starrte mit einer grübelnden Miene vor sich hin.
»Früher«, sagte er, »da wurden von Rom aus die Geschicke aller Völker unserer Welt entschieden. Aber jetzt sind die italienischen Fürstentümer und Königreiche doch nur Nachgedanken für die verdammten Österreicher und Spanier, und die Franzosen, und wenn sie die Zukunft fürchten, dann schauen sie nach Nordosten zu den Preußen oder nach Nordwesten zu den Engländern. Was heißt es heute schon, zu den ersten Familien eines italienischen Fürstentums zu gehören? Wir verzetteln uns in Bällen und kleinen Intrigen, weil das Rennen um die Weltherrschaft längst von anderen geführt wird. Bald wird man uns nicht mehr von Komödianten wie Ihnen unterscheiden können«, schloss er brütend.
Weil es ihr bisher geholfen hatte, dem Herzog gegenüber Rückgrat zu zeigen, entschloss sich Calori, diesmal wieder zu sagen, was sie dachte.
»Komödianten«, und sie gebrauchte bewusst dieses Wort, ohne auf ihre Gesangskunst zu verweisen, »wie ich müssen für ihren Lebensunterhalt bezahlen.« Einmal mehr dachte sie daran, was Mama Lanti über ihre frühe Kindheit und ihre Mutter, die Hilfsamme einer Amme, erzählt hatte, über die Dienstmägde, die siebzig Stunden in der Woche für ihre Herrschaft schufteten und dann noch ihren Körper zur Verfügung stellen mussten. »Komödianten wie ich haben Glück, wenn eines von zehn Kindern überlebt, nicht vier oder fünf. Komödianten wie ich können morgen als Bettler auf der Straße landen, wenn es Euer Exzellenz gefällt. Man wird uns nie mit Ihnen verwechseln.«
»Das ist die gottgewollte Ordnung«, sagte er streng. Sie dachte an ein Stück von Goldoni, das »Die Magd als Herrin« hieß und in dem die Heldin den reichen Geizhals dazu brachte, sie, eine einfache Magd, zu heiraten, weil ihm das immer noch lieber war, als seine verhasste Verwandtschaft erben zu lassen. Es war kein altes Stück, nur ein paar Jahre jung, und war doch schon in allen Städten, die sie besucht hatte, gespielt worden. Die Magd war in einen niederen Stand geboren worden und wurde doch reich und mächtig, durch ihre Schlauheit und ihre Fähigkeit, den Alten zu handhaben wie Columbina in der Comedia dell’Arte, daran lag es, dass die Leute heute applaudierten. Aber Calori spürte, dass sie bei dem Herzog an die Grenze dessen gedrungen war, was er bereit war, sich anzuhören. Ihr lag noch auf der Zunge, von dem Aufruhr in der Bevölkerung von Bologna zu berichten, als ein betrunkener Sohn des Herzogs von Parma ein altes Mütterchen einfach über den Haufen geritten hatte, das verstarb, und der Übeltäter mit der Erklärung, das sei alles nur ein unglückliches Versehen gewesen, davongekommen war. Sie schluckte die Geschichten mit einer gehörigen Portion Bitternis hinunter.
»Ja«, sagte sie und hielt sich vor Augen, dass ein Theaterstück immer noch nicht wie das reale Leben war. Ihre Mutter hatte den umgekehrten Weg von Goldonis Magd eingeschlagen und war von einer Bürgerin zu Faliers Haushälterin und seinem Spielzeug herabgesunken, aber sie war nicht tot. Daran zu denken trieb ihr Trauer statt Trotz in die Augen, und der Herzog schien darob zufrieden zu sein.
Immerhin war das Eis genügend gebrochen, dass er auf sie hörte und keine weiteren Versuche unternahm, zu lesen. Stattdessen fragte er sie nach Komponisten und Opern aus, und sie musste keinen Enthusiasmus heucheln, als er berichtete, dem großen Händel während dessen Zeit in Italien mehrfach begegnet zu sein und ein paar Uraufführungen seiner Opern erlebt zu haben. »Aber wo ist er jetzt, der Maestro, für wen schreibt er seine Opern? Für einen italienischen Fürsten etwa? Nein. Für den Deutschen, der auf dem englischen Thron sitzt. Deutsche und Engländer. Überall!«
Sie verzichtete darauf, zu bemerken, dass Händel ebenfalls ein Deutscher war.
»Aber es ist doch auch so, dass überall in der Welt italienische Sänger zu finden sind«, gab sie stattdessen zurück, »und vor allem
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