Verfuehrung auf Probe
wie in einem amerikanischen Road Movie. „Und jetzt, junge Frau, besorgen Sie mein Geld.“
Ich sehe an der Fassade hoch. Madame Vivouche schläft. Sie wird umkommen vor Angst, wenn es mitten in der Nacht bei ihr klingelt. Das Fenster in der ersten Etage links ist hell erleuchtet. Gabriel. Ich seufze. Dann drücke ich auf die Klingel. Was bleibt mir anderes übrig? Kurz darauf höre ich, wie jemand ein Fenster öffnet und brüllt: „Welcher Idiot klingelt mitten in der Nacht bei mir?“
Eindeutig. Das ist Gabriel.
„Schnell“, schreie ich den Taxifahrer an, der mit mir im Hauseingang steht, wo Gabriel mich nicht sehen kann, „das ist mein Nachbar. Der hat Ihr Geld.“
Vorsichtshalber drücke ich noch einmal auf die Klingel, bevor ich mit dem Fahrer auf den Gehweg laufe.
„Ich bin’s, Gabriel.“ Ich winke wie verrückt.
„Nicolette?“, hallt Gabriels Stimme durch die Nacht. Dann leiser: „Was tust du um diese Zeit hier vor der Tür. Ich denke, du bist bei einer Freundin.“
„Bitte, Gabriel, mach auf.“
„Shit, du hast den Schlüssel verloren.“
„ Und mein Geld“, ich sehe mich um. Gleich haben wir ganz Montmartre aufgeweckt. Der Montmartre ist nicht die ruhigste Gegend, aber auch in hier schlafen die meisten Leute bei Nacht. „Ich brauche deine Hilfe. Zwanzig Euro für das Taxi.“
„Ich komme runter.“
Das Fenster knallt zu. Fast im gleichen Moment geht im Flur das Licht an. Ich atme auf. Der Taxifahrer auch.
Als der von oben bis unten mit Farbe vollgekleckste Gabriel ihm einen 20-Euro-Schein in die Hand drückt, meint er: „Da haben Sie aber noch mal Glück gehabt, junges Fräulein.“
„Danke“, ich bin wirklich unglaublich erleichtert, „danke, dass Sie mich hergebracht haben. Ohne Sie wäre ich verloren gewesen.“
Er tippt sich an einen imaginären Hut und schwirrt ab.
„Komm rein, Nicolette. Du bist ja total durchgefroren. Warum rennst du denn bei dem Wetter in solchen Klamotten rum?“ Auf Gabriels Nase ist ein gelber Farbfleck und seine Bartstoppeln sind durchmischt mit blauen Sprenkeln. „Du holst dir noch den Tod.“
Damit könnte er recht haben. Fürsorglich legt er einen Arm um meine Schultern und nimmt mich mit in sein hell erleuchtetes Appartement, wo es nach Farbe und Terpentin stinkt.
„Ich arbeite“, erklärt er und zeigt auf eine mit blauer und gelber Farbe vollgekleckste Leinwand, die fast so hoch ist wie die Decke und zwei von seinen überladenen Regalen verdeckt.
„Ein original Riboult“, bemerke ich und schmiege mich fester in Gabriels Arme. Es tut gut, nach allem, was ich heute erlebt habe. „Ich dachte, du machst Computer-Kunst.“
„ Mach ich auch. Aber ich mische Digital und Echt. Ich sehe mal, ob ich irgendwas habe, das du drüberziehen kannst.“ Er nimmt seinen Arm von meiner Schulter und sucht seine Regale ab.
„Hast du keine Anziehsachen?“ Vielleicht sind sie ja noch in einem Karton. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Männer häufig die wichtigsten Dinge zuletzt auspacken.
„Das hier ist nur mein Atelier. Das heißt, es ist mein Zweitatelier , mein kleines Refugium. Ich habe noch eins, drüben in Marais.“
„Und da hältst du dich in dieser Bude auf?“ Ich kann es nicht glauben. Wenn Gabriel ein Atelier in Marais hat, dann nagt er garantiert nicht am Hungertuch.
„ Da habe ich keine Ruhe. Immer rückt mir jemand auf die Pelle.“
„Jemand?“ , frage ich neugierig. Gabriel muss ehrlich erfolgreich sein. Also ehrlich, Marais … Tolle Gallerien.
„Meine Agentin, vereinzelte Kunden …“ Endlich nimmt Gabriel etwas aus einem der vielen Regale, das aus Stoff ist. „Tut mir leid, Nicolette, aber das ist anscheinend das einzige, was ich hier habe. Aber zur Not …“
Ich falte das Stoffpäckchen auseinander. Es ist ein weißer Malerkittel. Na super. Er reicht mir bis kurz über die Knöchel. Ich wickele mich darin ein.
„Nicht so sexy wie dein Kleid mit der interessanten Leuchtschnur , aber warm“, grinst Gabriel.
Die phosphoreszierende Schnur … Jetzt weiß ich auch, warum mich der Taxifahrer im Dunkeln sehen konnte. Schon wieder stöhne ich auf. Das ist nicht mein Tag. Schon wieder nicht. Ich erinnere mich da an einen kürzlich zurückliegenden Tag, an dem es auch nicht viel besser lief.
„Willst du was trinken? Ich könnte dir einen Saft anbieten?“ Gabriel schwenkt eine fast leere Flasche mit Apfelsaft, anscheinend um zu checken, ob das wirklich Saft ist und kein Terpentin.
„Durst habe ich
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