Verfuehrung in Gold
konnte. Ihm vertraute sie nicht blind, aber hinreichend.
Wieder blieb sie vor einer Wand stehen, um hinauf zur Uhr zu sehen. Fünf Uhr zweiundfünfzig. Wenn sie seinem Butler sagte, dass es ein Notfall war, würde er sie vorlassen? Würde er eine Lampe anzünden und ihn wecken, ihm den Brief in die Hand legen? Sie wusste es nicht, also blieb ihr nichts anderes übrig, als es zu versuchen.
Emma zählte zwölf weitere Runden durch den Flur, ehe sie schließlich die Geduld verlor. Sie nahm den Umhang vom Haken, zog die Kapuze über ihren Kopf und streifte ihre dicksten Handschuhe über. Und sie betete, dass sie um diese verlorene Zeit zwischen Nacht und Morgen eine Droschke auftrieb und dass sie auf einen Bediensteten mit einem mitfühlenden Herzen traf oder zumindest mit einem scharfen Blick, der erkannte, dass es ihr ernst war.
Der Nebel kroch Emmas Knöchel hinauf, als sie die Tür öffnete. Wenigstens konnte ihr niemand folgen, denn sie verlor fast die Orientierung, als sie die Stufen hinab in den Dunst stieg.
Falls irgendwo in der Nähe eine Droschke stand, konnte Emma sie weder sehen noch hören. Es schien eher, als würde sich überhaupt nichts auf der Welt rühren, abgesehen von ihr und dem dichten Nebel. Folglich blieb ihr nichts anderes übrig, als in die Richtung seines Viertels zu gehen.
Der Nebel verschluckte sie, als bewegte sie sich in einen gigantischen Schlund hinein. Geräusche sprangen sie an und verstummten wieder: ihre eigenen Schritte und andere, nicht einzuordnende. Sie sollte Angst haben, doch sie lief einfach weiter. Ihre größte Bedrohung war ja schon dagewesen.
Matthew Bromley schien ein netter, unverheirateter Mann im kleinen Weiler ihres Onkels zu sein. Und Emma war eine junge Frau mit einem Körper, der vor Neugier barst. Er hatte sie gejagt, und sie hatte sich bei mehreren Gelegenheiten fangen lassen. Es war ein unschuldiger – oder vielleicht nicht gänzlich unschuldiger – Fehler gewesen. Sein Interesse an ihr war größer und intensiver geworden. Bald war er nicht mehr mit Spaziergängen und Küssen zufrieden. Er hatte alles gewollt, nicht bloß ihren Körper, sondern auch ihre Seele. Er wollte heiraten, hatte es gefordert, und sie hatte abgelehnt.
Dann, eines wunderbaren Frühlingsabends, hatte er sie gebeten, wieder mit ihm spazieren zu gehen. Sie war gelangweilt und rastlos gewesen, und so traf sie ihn an jenem Abend am Fluss, wo sie allerdings seine Umarmungen abwehrte. Bis sie den Rauch roch, den der Wind ihr zutrug, waren sie schon recht weit einen Pfad hinuntergegangen. Ihr Onkel war in dem Feuer gestorben, allein, weil sie sich davongeschlichen hatte.
Emma seufzte und blieb stehen, um sich umzusehen. Die Nacht wandelte sich langsam von Schwarz in Grau. Sicher würden bald die Straßen zum Leben erwachen.
Anfangs war Matthew ein Freund gewesen. Er hatte sie mit ins Haus seines Vaters genommen, hatte ihr in ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen beigestanden. Die Bromleys hatten sich um sie gekümmert, ihr ein Zuhause geboten, aber Matthew vergaß sein Verlangen nicht. Wenige Wochen nach dem Tod ihres Onkels hatte er angefangen, an ihre Zimmertür zu klopfen, von ihrer Pflicht und seiner Liebe geflüstert. Er hatte ihr in den Korridoren und an den Treppen aufgelauert, immerfort von ihrer Zukunft und der Dankbarkeit geredet, die sie ob seiner Hingabe empfinden sollte. Emma fühlte sie entsetzlich gefangen.
Dann wurde der Nachlass ihres Onkels geregelt, und sie erhielt ihr Erbe. Was für eine Erleichterung es gewesen war, bei den Bromleys ausziehen zu können! Sie hatte sich ein Zimmer beim Müller gemietet. Leider war ihre Freude von kurzer Dauer, denn Matthew erwies sich als hartnäckig und unnachgiebig in seinem Werben.
Emma erkannte bald, dass sie fliehen musste. Zunächst floh sie aus den gemieteten Zimmern und vor den aufdringlichen Nachbarn mit ihrem Gerede, wen sie heiraten würde und wann. Sie konnte Mrs Shropshire, der Müllersfrau, nicht verständlich machen, warum sie nicht an einer Heirat interessiert war. Bald wurde sie der verwunderten und tadelnden Blicke überdrüssig, wann immer sie einen Antrag von Matthew abwies. Und sie konnte schlecht ihr ganzes Leben von sechshundert Pfund bestreiten.
Ein Karren fuhr an Emma vorbei und bespritzte sie mit Schmutzwasser. Sie ging näher an die Hausmauern, was jedoch wenig nützte, denn sie stapfte in eine tiefe Pfütze und verfluchte ihr Pech. Noch ein Karren passierte sie, eine Frau eilte an ihr vorbei, und Emma
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