Verfuehrung
Zorn war so grenzenlos, daß sie keinen Ton herausbrachte. Sie riß die schwere Mahagonitür zum Gang auf und rannte quer durch die Halle.
Ein paar Minuten später stürmte sie in ihr Schlafzimmer und erschreckte ihre Zofe, die gerade das Bett aufschlug.
»Mylady! Ist etwas passiert?«
Sophy versuchte, ihre Wut und ihre verworrenen Sinne in Griff zu bekommen. Sie atmete viel zu heftig. »Nein, nein, Mary. Nichts ist passiert. Ich bin nur zu schnell die Treppe hochgerannt. Bitte hilf mir mit meinem Kleid.«
»Selbstverständlich, Madame.« Mary, ein aufgewecktes junges
Mädchen, die sehr stolz war auf ihre kürzliche Beförderung zur Zofe einer Lady, ging zu ihrer Herrin und half ihr aus dem Kleid. Sie trug das bestickte Musselinkleid geradezu ehrfürchtig weg.
»Ich hätte gerne eine Kanne Tee vor dem Schlafengehen, Mary. Würdest du mir bitte eine raufschicken lassen?«
»Sofort, Mylady.«
»Oh, und Mary, laß zwei Tassen auf das Tablett stellen.« Sophy holte tief Luft. »Der Graf wird mich besuchen.«
Mary nickte beifällig, hielt aber klugerweise den Mund, als sie Sophy in einen Chintzmorgenrock half. »Ich werde den Tee sofort raufschicken lassen, Madame. Oh, da fällt mir etwas ein. Eines der Hausmädchen hat Schwierigkeiten mit dem Magen. Sie glaubt, sie hat was Unrechtes gegessen. Sie wollte wissen, ob ich Euch um Rat fragen könnte.«
»Was? Oh, ja, natürlich.« Sophy ging zu ihrer Truhe mit getrockneten Kräutern und füllte rasch ein kleines Päckchen mit verschiedenen Kräutern, unter anderem gemahlene Lakritze und Rhabarber. »Bring ihr das und sag, sie soll zwei Fingerspitzen von jedem in eine Tasse Tee mischen. Das sollte ihren Magen beruhigen. Wenn es ihr morgen früh nicht bessergeht, laß es mich auf jeden Fall wissen.«
»Danke, Madame. Alice wird ja so dankbar sein. Sie leidet viel unter ihrem nervösen Magen, wie ich gehört hab. Ach, übrigens, Allan, der Lakai, hat gesagt, ich soll Euch sagen, daß sein rauher Hals viel besser ist, dank diesem Honig und Brandy Sirup, den Ihr ihm von der Köchin habt zubereiten lassen.«
»Ausgezeichnet. Ausgezeichnet. Freut mich, das zu hören«, sagte Sophy ungeduldig. Nichts interessierte sie momentan weniger als der rauhe Hals des Lakaien. »Und jetzt bitte, Mary, beeil dich mit dem Tee, ja?«
»Ja, Madame.« Mary huschte aus dem Zimmer.
Sophy begann, im Zimmer auf und ab zu laufen, ihre weichen Pantoffel glitten lautlos über den dunklen gemusterten Teppich. Sie merkte gar nicht, daß sich ein Stück Spitzenbesatz vom Kragen ihres Mantels gelöst hatte und jetzt über einer Brust baumelte.
Dieser eingebildete, unsagbar arrogante Mann, den sie geheiratet hatte, dachte tatsächlich, er bräuchte sie nur zu berühren und sie würde seinen Verführungskünsten erliegen. Er würde sie nicht in
Ruhe lassen und sie verfolgen, bis er ihr seinen Willen aufgezwungen hatte. Das wußte sie jetzt. Er mußte sie offenbar besteigen, um seinen männlichen Stolz zu wahren.
Sophy wurde allmählich klar, daß sie keinen Frieden haben würde, ehe Julian sich in ihrem Schlafzimmer als ihr Herr und Meister bewiesen hatte. Sie würde wohl kaum Gelegenheit haben, an einer harmonischen Beziehung mit ihm zu arbeiten, solange Julian nur einen Gedanken im Kopf hatte, nämlich sie zu verführen.
Sophy blieb mit einem Mal stehen und fragte sich, ob sich der Graf von Ravenwood mit einer einzigen Nacht der Eroberung zufriedengeben würde. Julian war schließlich und endlich nicht in sie verliebt. Im Augenblick stellte sie wohl eine Herausforderung dar, weil sie seine Frau war und ihm die Privilegien verweigerte, die er als sein gutes Recht betrachtete. Aber wenn er glaubte, er hätte endlich beiden von ihnen bewiesen, daß er sie verführen konnte, würde er sie vielleicht eine Weile in Ruhe lassen.
Sophy ging rasch zu ihrer schön geschnitzten Kräutertruhe und betrachtete nachdenklich die Reihen winziger Schubladen. Sie kochte innerlich vor Wut und Angst und einem anderen Gefühl, mit dem sie sich nicht näher auseinandersetzen wollte. Es blieb nicht viel Zeit. In wenigen Minuten würde Julian durch die Tür schlendern, die sein Ankleidezimmer mit ihrem Schlafgemach verband. Und dann würde er sie in die Arme nehmen und sie berühren, wie er seine kleine Ballettänzerin oder was immer sie war berührte.
Mary öffnete die Tür und kam mit einem Silbertablett herein. »Euer Tee, Madame. Darf es sonst noch etwas sein?«
»Nein, danke, Mary. Du kannst gehen.« Sophy
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