Vergangene Schatten
Wochen lang beim Packen geholfen.« Loren Schuler, Miss Virgies Nichte und nächste Verwandte, war einst eine Klassenkameradin von Carly gewesen und arbeitete heute bei der Bank, wie Carly festgestellt hatte, als sie ihre bescheidenen Ersparnisse zu Benton Savings and Loan transferierte, bevor sie in die Stadt kam. »Was Miss Virgie nicht mehr wollte, das haben sie verkauft.«
»Trotzdem ...«
Als Matt die Tür erreichte, drehte er sich zu ihr um. Carly war sehr darauf bedacht, wirklich nur in sein Gesicht zu sehen. Es wäre ganz sicher nicht ratsam gewesen, einen Blick auf diesen sexy Oberkörper zu riskieren.
»Versuch's einfach, okay? Denk an die silbernen Kerzenständer und solches Zeug.«
»Wenns sein muss«, sagte sie, zum Glück ziemlich barsch; sie hatte sich wieder einigermaßen von der Schmach erholt, die die plötzliche Veränderung ihrer Frisur ihr bereitet hatte. So wichtig war die Frisur nun auch wieder nicht, sagte sie sich. Dass sie mit einem Mal wieder die verhassten Locken ihrer Kindheit hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie selbst auch wieder so sein musste wie früher. Nein, sie war eine erwachsene Frau und Herrin über ihr Schicksal. Ihre schmerzhaften Jugendjahre lagen ebenso hinter ihr wie ihre blinde Verliebtheit in den Mann, den sie in diesem Moment ziemlich finster ansah. Das war alles Vergangenheit. Aus und vorbei. Geschichte. Und das würde auch er einsehen müssen. Doch Matt schien ihren barschen Ton gar nicht bemerkt zu haben. Mit einer Selbstverständlichkeit, als wären sie gute Freunde, nahm er sie am Arm und führte sie mit sich.
»He, wartet auf mich!«, rief Sandra erschrocken, als sie, immer noch mit der Pfanne irisier Hand, hinterhereilte.
Nachdem sich Carly keineswegs freundschaftlich mit ihm verbunden fühlte, riss sie sich sogleich von ihm los. Als Matt mit einem süffisanten Lächeln zur Seite trat, ging sie voraus durch die Tür und schaltete das Licht ein. Nachdem das Zimmer von dem Kronleuchter erhellt wurde, blickte sie sich um. Das Wohnzimmer war einer von sechs großteils rechteckigen Räumen im Erdgeschoss. Zentrales Möbelstück war ein purpurrot bezogenes, mit kunstvollen Schnitzereien verziertes Sofa; genauso erwähnenswert aber waren die prächtigen Buntglasfenster, die im Moment jedoch von den Vorhängen verhüllt waren, sowie die kunstvolle Stuckarbeit und der riesige italienische Marmorkamin. Dazu kamen ein Schaukelstuhl und ein Ohrensessel in ähnlichem Stil wie das Sofa, zwei Marmortische und ein ausgeblichener Orientteppich.
»Das sieht nett aus«, stellte Sandra von der Tür aus fest. Carly blickte zu ihr zurück und sah, dass Sandra sich prüfend umsah. Natürlich, Sandra dachte schon an die zukünftige Frühstückspension. Carlys einziger Gedanke war im Moment ein etwas ungläubiges Ich bin zu Hause. Sie war mit einem Mal überwältigt von dem Anblick und den Gerüchen, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Die vornehmen verblichenen Samtbezüge, der Duft nach Pfefferminze. Ihre Großmutter hatte immer Pfefferminzbonbons in einer Glasschüssel gehabt.
Ein rascher Blick sagte ihr, dass die Schüssel immer noch auf dem Tisch neben dem Sofa stand und mit Bonbons gefüllt war. Es waren natürlich nicht mehr die gleichen Bonbons, doch das änderte nichts. Hier in Benton, in diesem Haus, war alles noch so wie früher.
Ihr Blick fiel auf das Porträt ihres mürrisch dreinblickenden Urgroßvaters, das hier hing, so lange sie zurückdenken konnte. Mit einem Schlag fühlte sie sich wieder wie ein achtjähriges Mädchen.
So alt war sie gewesen, als sie zum ersten Mal dieses Zimmer betreten und das Porträt erblickt hatte. Ihre Großmutter, die ihr in ihren schwarzen Kleidern streng und furchteinflößend erschienen war, hatte sie an jenem Tag vom County Home for Innocents abgeholt. Klein und eingeschüchtert von dem riesigen, stillen Haus, all der Pracht um sie herum und natürlich vor allem von der finsteren alten Frau, hatte Carly an diesem Fleck gestanden und zugehört, wie ihre Großmutter ihr einen Vortrag darüber hielt, was man von ihr erwartete und wie sie sich zu benehmen hatte. Ihre Großmutter hatte ihr gesagt, dass sie sich glücklich schätzen könne, hier zu sein, und sie hatte gewusst, dass es tatsächlich so war.
Sie war ein kleines Kind, das keiner wollte und das froh sein musste, irgendwo einen Platz zu bekommen.
»Na?«
Matts Stimme, die ihr unter den gegebenen Umständen durchaus willkommen war, durchbrach den Schwall der
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