Vergebung
hatte, dass sie Geburtstag hatte. Sie war in Gefangenschaft. Genau wie damals in der psychiatrischen Kinderklinik, und wenn die Dinge jetzt nicht so liefen, wie sie wollte, dann bestand die Gefahr, dass sie noch ein paar zukünftige Geburtstage in irgendeinem Irrenhaus verbringen würde.
Was sie nicht hinnehmen wollte.
Als man sie zum ersten Mal einsperrte, war sie gerade ein Teenager geworden. Jetzt war sie erwachsen und hatte andere Kenntnisse und Kompetenzen. Sie überlegte, wie lange sie brauchen würde, um sich irgendwo im Ausland in Sicherheit zu bringen, sich eine neue Identität zuzulegen und ein neues Leben aufzubauen.
Sie stand auf und ging auf die Toilette, wo sie sich im Spiegel betrachtete. Sie hinkte nicht mehr. Mit der Hand betastete sie die Stelle an der Hüfte, wo die Schusswunde zu einer Narbe verheilt war. Sie bewegte die Arme und dehnte ihre Schultern in alle Richtungen. Zwar spürte sie noch ein leichtes Ziehen, aber im Grunde war sie wiederhergestellt. Sie klopfte sich gegen den Schädel. Anscheinend hatte ihr Gehirn keinen größeren Schaden genommen, als es von einem Vollmantelgeschoss durchbohrt wurde.
Sie hatte ein Wahnsinnsglück gehabt.
Zunächst hatte sie sich damit beschäftigt, wie sie aus dem verschlossenen Zimmer des Sahlgrenska-Krankenhauses ausbrechen könnte.
Doch dann hatten Dr. Jonasson und Mikael Blomkvist ihre Pläne durchkreuzt, indem sie einen Palm zu ihr ins Zimmer schmuggelten. Sie hatte Mikaels Texte gelesen und gegrübelt, hatte eine Konsequenzenanalyse gemacht, über seinen Plan nachgedacht und ihre Möglichkeiten erwogen. Dann hatte sie entschieden, dass sie dieses eine Mal machen würde, was er ihr vorschlug. Sie würde das System testen. Er hatte sie davon überzeugt, dass sie sowieso nichts zu verlieren hatte, und bot ihr an, auf eine ganz andere Art auszubrechen. Und wenn der Plan misslang, dann musste sie eben ihre Flucht aus St. Stefan oder irgendeinem anderen Irrenhaus planen.
Was sie tatsächlich zu dem Entschluss trieb, Mikaels Spiel mitzuspielen, war ihre Rachelust.
Sie verzieh nichts.
Zalatschenko, Björck und Bjurman waren tot.
Aber Teleborian lebte noch.
Ebenso wie ihr Bruder Ronald Niedermann. Auch wenn er im Prinzip nicht ihr Problem war. Zwar hatte er geholfen, sie zu ermorden und zu begraben, aber irgendwie war er in ihren Augen doch eine periphere Erscheinung. Wenn er mir eines Tages über den Weg läuft, dann können wir immer noch weitersehen, aber bis dahin soll sich die Polizei den Kopf über ihn zerbrechen.
Doch Mikael hatte ganz recht, wenn er sagte, dass hinter der ganzen Verschwörung noch mehr unbekannte Gesichter stehen mussten, die solchen drastischen Einfluss auf ihr Leben genommen hatten. Und sie musste die Namen und Kennnummern dieser anonymen Gesichter haben.
Also hatte sie beschlossen, sich auf Mikaels Plan einzulassen, und die nackte und ungeschminkte Wahrheit über ihr Leben niedergeschrieben - in Form einer knochentrockenen Autobiografie von vierzig Seiten. Sie war sehr zufrieden mit ihren Formulierungen. Der Inhalt jedes Satzes war wahr. Sie hatte es akzeptiert, als Mikael argumentierte, dass sie in den schwedischen Massenmedien schon so grotesk verzerrt dargestellt worden war, dass eine gesunde Portion Verrücktheit ihrem Ansehen sicher auch nicht mehr schaden würde.
Doch die Biografie war insofern eine Fälschung, als sie nicht die ganze Wahrheit über sich und ihr Leben erzählte. Dazu hatte sie keinen Grund.
Sie ging wieder ins Bett und kroch unter die Decke. Irgendwie verspürte sie eine leichte Gereiztheit, die sie nicht recht definieren konnte. Sie streckte die Hand nach einem Notizblock aus, den sie von Annika Giannini bekommen und kaum benutzt hatte. Als sie die erste Seite aufschlug, las sie die eine Zeile, die sie hineingeschrieben hatte:
Letzten Winter hatte sie sich in der Karibik mehrere Wochen lang den Kopf über Fermats Theorem zerbrochen. Als sie nach Schweden zurückkam, kurz bevor sie in die Jagd auf Zalatschenko verwickelt wurde, hatte sie weiter mit Gleichungen herumgespielt. Und irgendwie hatte sie das irritierende Gefühl, dass sie eine Lösung gesehen hatte … dass sie die Lösung erlebt hatte.
Aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Sich an etwas nicht erinnern zu können war für Lisbeth ein ganz unbekanntes Phänomen. Sie hatte sich selbst getestet, indem sie ins Internet ging und ein paar willkürlich ausgewählte html-Quelltexte auswählte, die sie in einem Rutsch durchlas,
Weitere Kostenlose Bücher