Vergebung
Zweck man in der Psychiatrie mit einem stimulationsfreien Raum verfolgt …«
»Danke, das ist nicht nötig. Das ist ein Raum, in dem man den Patienten von allen Sinneseindrücken isoliert, die ihn irgendwie aufregen könnten. Also, an wie vielen Tage lag die 13-jährige Lisbeth Salander festgeschnallt in so einem Raum?«
»Nun … ganz spontan würde ich sagen, so um die dreißig Mal.«
»Das wäre bedeutend weniger, als sie selbst angibt.«
»Richtig.«
»Könnte ihre Krankenakte genauere Auskunft darüber geben?«
»Schon möglich.«
»Danke schön«, sagte Annika Giannini und zog einen ansehnlichen Papierstapel aus ihrer Aktentasche. »Dann bitte ich, dem Gericht eine Kopie von Frau Salanders Krankenakte aus St. Stefan übergeben zu dürfen. Ich habe nachgezählt, wie oft erwähnt wird, dass die Patientin mit Gurten fixiert wurde, und kam auf 381 Mal, was ziemlich genau den Angaben meiner Mandantin entspricht.«
Dr. Teleborians Augen weiteten sich.
»Stopp … das sind Informationen, die der Geheimhaltung unterliegen. Woher haben Sie das?«
»Ich habe sie von einem Reporter der Zeitschrift Millennium . Diese Akte ist also so geheim, dass sie sogar Zeitschriftenredaktionen zugänglich ist. Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass Auszüge aus dieser Krankenakte heute auch im neuen Millennium -Heft veröffentlicht werden. Daher glaube ich, dass dieses Gericht ebenfalls die Möglichkeit bekommen sollte, sich die Akte anzusehen.«
»Das ist gesetzeswidrig …«
»Nein. Frau Salander hat die Veröffentlichung der Auszüge genehmigt. Meine Mandantin hat nämlich nichts zu verbergen.«
»Ihre Mandantin ist nicht geschäftsfähig. Sie hat kein Recht, derlei Entscheidungen allein zu treffen.«
»Wir werden später noch auf die Aberkennung ihrer Geschäftsfähigkeit zurückkommen. Aber zuerst werden wir uns ansehen, was in St. Stefan mit ihr passiert ist.«
Richter Iversen runzelte die Stirn und nahm den Aktenstapel entgegen, den Annika Giannini ihm überreichte.
»Für den Staatsanwalt habe ich keine Kopie gemacht. Er hat dieses die Privatsphäre verletzende Dokument nämlich schon vor einem Monat bekommen.«
»Wie das?«, fragte Iversen.
»Staatsanwalt Ekström bekam von Dr. Teleborian eine Kopie dieser für geheim erklärten Krankenakte, und zwar bei einem Treffen in seinem Dienstzimmer, das am Samstag, dem 4. Juni um 17 Uhr stattfand.«
»Stimmt das?«, erkundigte sich Iversen.
In einem ersten Impuls wollte Richard Ekström alles leugnen. Dann fiel ihm jedoch ein, dass Annika Giannini vielleicht Beweise für ihre Behauptung hatte.
»Ich habe darum gebeten, Teile der Krankenakte lesen zu dürfen, wobei ich mich natürlich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet habe«, gab Ekström zu. »Ich musste mich schließlich vergewissern, ob Frau Salanders Geschichte so war, wie sie behauptet.«
»Danke«, sagte Annika Giannini. »Damit wurde uns soeben bestätigt, dass Dr. Teleborian nicht nur die Unwahrheit sagt, sondern auch einen Gesetzesverstoß begangen hat, indem er eine Krankenakte herausgegeben hat, die nach seinen eigenen Worten der Geheimhaltung unterliegt.«
»Wir haben das zur Kenntnis genommen«, erklärte Iversen.
Auf einen Schlag war Richter Iversen hellwach. Annika Giannini hatte gerade einen wichtigen Teil der Zeugenaussage zerschmettert. Und sie behauptet, all ihre Aussagen belegen zu können . Iversen rückte seine Brille zurecht.
»Dr. Teleborian, können Sie mir anhand dieser Krankenakte, die ja von Ihrer eigenen Hand stammt, sagen, wie viele Tage Lisbeth Salander mit Gurten ans Bett gefesselt wurde?«
»Ich kann mich nicht entsinnen, dass es solch ein Ausmaß gehabt hat, aber wenn die Krankenakte das sagt, dann muss es ja wohl stimmen.«
»381 Tage. Ist das nicht außergewöhnlich viel?«
»Das ist außergewöhnlich viel, ja.«
»Wie würden Sie es bezeichnen, wenn Sie 13 Jahre alt wären und jemand Sie über ein Jahr lang mit Ledergurten an ein Stahlbett fesseln würde? Vielleicht als Folter?«
»Sie müssen verstehen, dass die Patientin eine Gefahr für sich selbst und andere darstellte …«
»Eine Gefahr für sich selbst, sagen Sie. Hat Lisbeth Salander sich jemals selbst verletzt?«
»Es gab Befürchtungen in dieser Richtung …«
»Ich wiederhole meine Frage: Hat Lisbeth Salander sich jemals selbst verletzt? Ja oder nein?«
»Wir als Psychiater müssen lernen, das Bild in seiner Gesamtheit zu sehen. Was Lisbeth Salander betrifft, so werden Sie zum Beispiel eine
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