Vergeltung am Degerloch
Hexentreibens. Sie hat ihren Freund erschlagen. Wir wissen nicht, warum. Aber wir können nicht behaupten, sie sei Opfer eines Überfalls gewesen.«
»Ich dachte, du könntest beweisen, dass Uwe ein Triebtäter war?«
»Du weißt ganz genau, dass ich das nicht kann. Und selbst wenn. Gabi ging als Bursche. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, dass Gabi von ihrem Vater sexuell misshandelt wurde. Wenn Martha das in den Computer tippen muss, ist es wie eine Selbsthinrichtung. Im Fall Gabi sind uns die Hände gebunden.«
»Dann hat Hede dir also auch ihr Einweckglas gezeigt«, bemerkte Marie. »Meiner Ansicht nach handelt es sich um einen Hundebandwurm. Prostituierte sind oft in ihrer Kindheit von männlichen Verwandten sexualisiert worden. Was auch immer Hede dir über Gabi erzählt hat, es ist eine Ausgeburt ihrer schmutzigen Phantasie und hat nichts mit Gabi zu tun.«
»Was auch immer die Wahrheit ist«, sagte ich, »sie könnte ganz anders aussehen, als wir eigentlich wollen. Darum machen wir einen Fehler, wenn wir jetzt schon irgendetwas über diesen Fall in der Amazone veröffentlichen.«
Marie zeigte blankes Erstaunen. »Du warst doch ganz wild darauf, dass wir was machen. Ich war schon immer dagegen.«
»Aha.«
»Na gut«, sagte Marie, »dann lassen wir es.« Sie stand auf, stürmte ins Sekretariat, nahm Louises Fax von Marthas Tisch, zerriss es und ließ die Schnipsel in den Papierkorb rieseln. Martha staunte nicht einmal. Sie war kurz entschlossene Korrekturen am Inhalt der Zeitung gewöhnt.
Ich begab mich in mein Büro, rammelte die Tür ins Schloss und rief im Anzeiger an.
»Hallo, Krk«, sagte ich.
Er hüstelte. »Hallo, Lisa.«
»Wann fahren wir nach Böblingen?«
Er hustete. »Ich weiß nicht.«
»Wir müssen was tun.«
»Ich bin im Augenblick total zugeschissen mit Arbeit.«
»Okay«, sagte ich beleidigt und legte auf.
Zehn Sekunden später klingelte mein Apparat. Martha stellte mit Verschwörerinnenstimme durch. »Wieder dieser Kraus.«
»Heute Nachmittag«, sagte er. »Gegen vier. Wenn du mich abholst.«
Ich schob meine Papiere auf dem Schreibtisch hin und her. Das Aufsätzchen einer Gymnasiastin fiel mir in die Hände. Sie hatte am Kiosk die Amazone entdeckt und ein Buch in der Bibliothek. Das hatte ihren Verstand zum Sprudeln gebracht. Intelligenz ohne Erfahrung. Das Buch handelte von Lydia, einem Unschuldsengel, der einem Lüstling in die Hände fällt. Der Lüstling glaubt, dass Siebzehnjährige nichts von Sexualität wissen, und will ein Experiment machen. Er heiratet Lydia, rührt sie aber nicht an. Sie soll ein Engel bleiben. Doch das Mädchen kümmert dahin, weil die sexuelle Erlösung nicht stattfindet. Schließlich wird der Lüstling von seinen Trieben übermannt und vergewaltigt Lydia. Daraufhin wird sie verrückt. Er erschießt sich aus Reue über dem tot geborenen Kind. Lydia erwacht aus ihrer geistigen Umnachtung und begibt sich mit einer Emanze auf Reisen. Die Autorin des Buchs lebte Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, hieß Louise Aston, trug Männerkleider und rauchte Zigarren.
Dass die Gymnasiastin das Fehlen des klassischen Happy Ends in Astons Roman begrüßte, war vorzeitige Resignation und Lüge. Von emanzipatorischer Frauenfreundschaft und Freiheit träumte keine Siebzehnjährige. Aber sie wollte etwas kapieren, an das sie sich zwanzig Jahre später erinnern würde, wenn sie ihren Mann um des lieben Friedens willen über sich ließ: Liebe ist, wenn man Sex zulässt, ohne Lust zu haben.
Louise hätte gesagt, jede Generation wiederhole die alten Entdeckungen. Und katholische Mütter, unerfahrene Mädchen und Feministinnen einigte die Überzeugung, dass von den Fortpflanzungsorganen eine große Gefahr ausging.
17
»Wie gesagt, Böblingen scheidet eigentlich aus«, behauptete ich, als Krk und ich zusammen mit seinem Fotokoffer durch den Berufsverkehr über die Autobahn nach Böblingen rasten. »Da hat Uwe gewohnt. Und wir glauben doch, dass er seine Opfer mit dem Auto suchte, also in der Ferne.«
»Das muss gar nichts heißen. Du fährst ja auch mit dem Auto in die Stadt.«
»Ungern«, sagte ich. »Frauen können nicht einparken.«
»Darum war Uwe ja auch ein Mann. So viel steht wenigs tens fest. Musst du so schnell fahren?«
Ich bremste etwas.
»Außerdem wissen wir noch gar nicht«, sagte Krk, »wo die Frau aus Böblingen verschwand. Uwe könnte sie an irgendeiner Bushaltestelle, zum Beispiel in Vaihingen, aufgelesen haben. Dann fuhr er mit
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