Vergeltung
hier nicht darum. Wäre Tony diese Sache als Einzelfall untergekommen, dann hätte er sich über die Bedeutung der Verstümmelung Gedanken machen können. Es hätte darum gehen können, die endgültige Kontrolle über das Opfer auszuüben. »Sie kann nicht weglaufen, wenn sie keine Beine hat«, sagte er. Oder es könnte um eine Strafe gehen. »Sie ist so böse, dass sie auseinandergenommen und dann wieder ganz neu zusammengesetzt werden muss.«
Er massierte sich die Kopfhaut mit den Fingerspitzen. »Aber darum geht es hier nicht. Er hat uns vorher etwas ganz anderes gezeigt. Natürlich geht es um Kontrolle. Serienmorde drehen sich immer um Kontrolle. Aber das ist hierbei nicht der Kern der Sache.« Er warf die Hände in die Luft. Er wäre gern auf und ab gegangen, aber das Boot war zu klein. »Mal ehrlich, Tony, die Verstümmelung könnte völlig bedeutungslos sein. Zufall. Das Erste, was ihm in den Sinn gekommen ist.«
Nur war auch das lächerlich unzutreffend. Man machte keine sorgfältigen Pläne, wie man losgehen und töten wird, Pläne, die ein falsches Nummernschild und Baseballkappen einbezogen, damit die Bilder der Kameras nichts brächten, nur um dann später eine vollkommen beliebige Art der Ermordung zu wählen. Hier lief etwas, das eine Struktur hatte, selbst wenn er nicht erkennen konnte, worin sie bestand. Und je mehr er versuchte, es festzuhalten, desto mehr schien es sich dem Zugriff zu entziehen.
Tony trank von seinem Tee, starrte aus dem Bullauge auf das spiegelglatte Wasser und ließ seine Gedanken schweifen. Was immer sich da seit dem letzten Mord in seinem Hinterkopf regte, wurde jetzt stärker, aber er konnte es immer noch nicht fassen. Vielleicht würden die Tatortfotos helfen.
Er ging zum Computer zurück und öffnete die Datei. Und wurde daran erinnert, dass die Welt manchmal doch genauso funktionierte, wie man es sich wünschte. Als Tony nacheinander die Fotos betrachtete, vom ersten Mord bis zum letzten, fügten sich die Bilder aneinander wie ein Puzzle. Auf einmal verstand er, was er da vor sich sah. Es ergab einen Sinn, und zugleich auch wieder nicht.
»Maze Man«, sagte er leise. Es war eine amerikanische Fernsehserie der neunziger Jahre gewesen. Auf Channel 5 spätnachts, von Tony Hill und circa drei anderen Zuschauern gesehen, wenn man nach den Quoten ging. Es war eine Low-Budget-Fernsehserie über einen Psychologen und Profiler, der ständig vom »Labyrinth der Psyche« redete und davon schwafelte, dass Kriminelle sich im Labyrinth verirrten, in die falsche Richtung abbogen und ihre Seele dem Minotaurus opferten. Tony hatte die Sendung nur gesehen, weil er Schlaflosigkeit als eines seiner Hobbys anführen könnte, hätte er ein Facebook-Profil. Das und das Ansteigen seines Blutdrucks, weil er sich etwas so Albernes anschaute, erinnerten ihn daran, dass er lebendig war.
Die unerbittliche Dummheit des Plots und die unlogischen Schlussfolgerungen des Protagonisten waren wahrscheinlich die Gründe dafür, dass es bei einer Staffel blieb. Höchstwahrscheinlich war sie auf irgendeinem Satellitenkanal mitten in der Nacht noch einmal gelaufen, aber das war an Tony vorbeigegangen. Wenn er recht hatte, hatte sie jedoch der Mann, der die Prostituierten in Bradfield tötete, entdeckt.
Aufgeregt googelte Tony jetzt Maze Man und klickte auf den IMDB-Eintrag. Vierundzwanzig Episoden, gedreht 1996, mit Larry Geitling und Joanna Duvell. Tony erinnerte sich kaum an sie, eine durchschnittliche kalifornische Blondine, aber Geitlings Gesicht hatte er noch gut im Gedächtnis, das markante Kinn, die Wangenknochen und die Fältchen um die saphirblauen Augen, wenn er nachdenklich wurde. Was meistens kurz vor den Werbepausen der Fall war, wie Tony noch wusste. Geitlings Name erinnerte ihn vage an etwas, er konnte jedoch nicht genau sagen, an was, und auch Google half nicht.
Aber er wusste, dass der Name nicht grundlos in seiner Erinnerung hängengeblieben war. Nach dem Prinzip, dass alles einen Versuch wert ist, rief er Staceys patentiertes Archivsystem auf. Es durchsuchte jedes eingescannte oder für einen Fall importierte Dokument und schuf einen Master-Index. Er tippte »Larry Geitling« ein und fiel fast vom Stuhl, als er sofort einen Treffer hatte. Unter dem Namen Larry Geitling hatte sich der Mann für Zimmer Nummer fünf im Sunset Strip Motel angemeldet. Das Zimmer, dessen Teppich und Handtücher tropfnass gewesen waren in der Nacht, als Suze Black verschwand. Das war ein wirklicher
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