Vergeltung
herumzuzappeln. Chris hörte auf, Notizen zu machen, Stacey hörte auf, etwas in ihr Smartphone einzutippen; und Paulas entgeisterter Gesichtsausdruck war wie eingefroren.
Carol presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Sie wissen ja genauso gut wie ich, dass wir die Mittel nicht haben.« Sie klang schroffer als gewöhnlich.
Kevin wurde rot, und seine Sommersprossen verschwanden. »Ich dachte nur … wenn sie uns doch sowieso abwickeln, warum nicht? Wissen Sie? Sie gehen doch weg. Was haben wir zu verlieren?«
Bevor Carol auf diese untypische Aufmüpfigkeit reagieren konnte, flog die Tür des Büros auf. Auf der Schwelle stand Tony Hill, die Haare zerzaust, ein Hemdzipfel hing heraus, der Kragen seiner Jacke war verrutscht. Er sah sich aufgeregt um, bis sein Blick an Carol hängenblieb. Er schnappte nach Luft und stammelte dann: »Carol, wir müssen reden.«
Carol starrte ihn ungnädig und leicht gereizt an. »Ich bin mitten in einer Besprechung zu einem Mordfall, Tony«, erwiderte sie mit eisiger Stimme.
»Das kann warten«, gab er zurück, kam weiter in den Raum herein und ließ die Tür hinter sich langsam zufallen. »Was ich zu sagen habe, nicht.«
10
V or einer Stunde hatte Tony Hill auf seinem Lieblingssessel gesessen, seinen Gamecontroller in Händen, und seine Daumen hüpften über die Knöpfe, während er die Zeit vertrödelte, bis er versuchen konnte, Piers Lambert im Innenministerium zu erreichen. Das schrille Läuten des Telefons machte seiner Konzentration ein Ende, und sein Auto flog mit kreischenden Bremsen und quietschenden Reifen von der Straße. Er schaute finster zum Telefon auf dem Tisch neben ihm. Die beste Chance, die er seit langer Zeit gehabt hatte, die letzten Level des Spiels zu erreichen, und jetzt war sie dahin. Er ließ den Controller fallen, griff nach dem Telefon und bemerkte dabei, dass es spät genug war, Piers anzurufen. Gleich nachdem er mit dem Anrufer gesprochen hatte.
»Hallo?« Sein Gruß klang keineswegs freundlich.
»Sind Sie das, Tony?« Die Stimme hörte sich nach einem Minister des Tory-Kabinetts an – hochgestochen und vornehm.
Jemand, der abergläubischer war als Tony, wäre hysterisch geworden. Aber Tony nahm den Hörer einfach ein paar Zentimeter vom Gesicht weg und legte die Stirn in Falten, bevor er ihn wieder ans Ohr hielt.
»Piers? Sind Sie das wirklich?«
»Gut kombiniert, Tony. Meistens schalten Sie nicht so schnell.«
»Nur deshalb, weil Sie normalerweise bei mir gedanklich nicht so im Vordergrund stehen, Piers.«
»Und heute ist das anders? Das würde ich als Kompliment verstehen, wenn ich weniger darüber wüsste, wie Ihr Denken funktioniert. Warum dachten Sie an mich?«
Es gab keinen speziellen Grund, wieso ein Anruf von Piers Lambert Tony hätte beunruhigen sollen. Aber wenn ranghohe Bürokraten sich persönlich meldeten, war das nach seiner Erfahrung nie ein Vorbote einer freudigen Nachricht. »Sprechen Sie zuerst«, sagte er. »Das Gespräch geht ja auf Ihre Rechnung.«
»Leider habe ich eine ziemlich beunruhigende Neuigkeit«, sagte Lambert.
Hm. Wenn Leute wie Lambert Ausdrücke wie »ziemlich beunruhigend« gebrauchten, würden die meisten anderen Zeitgenossen sich ohne Bedenken solcher Vokabeln wie »Alptraum«, »Desaster« oder »Katastrophe« bedienen. »Worum geht’s denn?«
»Es hat mit Jacko Vance zu tun.«
Diesen Namen hatte Tony seit Jahren nicht mehr gehört, aber trotzdem verursachte er ihm immer noch Übelkeit. Jacko Vance war ein psychopathischer Charmeur, der keine Spur von Gewissen besaß. Das machte ihn noch nicht zu etwas Besonderem, denn Tony war mit solchen Abgründen menschlicher Verhaltensweisen vertraut. Bevor er endlich entlarvt wurde, hatte Vance das Vertrauen seiner Mitmenschen bis in die Grundfesten erschüttert. In seinem Berufsleben hatte Tony immer versucht, sich von Mitgefühl und Einfühlsamkeit leiten zu lassen. Aber unter den vielen Gewaltverbrechern, deren Taten ihm diese Eigenschaften zu rauben gedroht hatten, war Jacko Vance am weitesten gekommen. Die einzige Neuigkeit über Vance, die Tony gern gehört hätte, wäre die Nachricht von seinem Tod gewesen. »Was ist passiert?«, fragte er, und seine Stimme war heiser vor Beklemmung.
»Er ist anscheinend entkommen.« Piers klang bedauernd. Tony konnte sich sein verlegenes Lächeln vorstellen, den besorgten Blick und wie er seine Krawatte zurechtrückte, um sich zu beruhigen. In diesem Moment hätte er diese Krawatte gern gepackt und
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