Vergeltung
einer Kopfbewegung auf die offen stehende Tür. Tony blieb nicht einmal stehen. Carol seufzte und machte eine hilflose Geste in Richtung ihrer Kollegen. Ihr Team war durchaus an Tonys Eigenheiten gewöhnt, aber es war doch sehr ärgerlich, dass er hereinschneite, als gehörte ihm der Laden hier. Schließlich hatte er hier nichts zu bestimmen. »Wie ich schon sagte, Kevin, sprechen Sie mit Suze Blacks Mitbewohner. Sie könnten Paula mitnehmen, denke ich. Sam, bitten Sie Dr. Shatalov um ein Foto, das wir nehmen können, um Zeugen zu finden. Chris, arbeiten Sie mit Stacey zusammen, ergänzt die Angaben auf dem Whiteboard anhand der Dateien. Und vergesst die Tätowiermaschinen nicht.« Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Tony schon auf und ab ging. »Ich bin gleich wieder da«, seufzte sie erschöpft.
Carol schloss die Bürotür hinter sich, machte sich aber nicht die Mühe, die Rollos herunterzulassen. Sie erwartete nicht, dass das Gespräch sich in eine Richtung entwickeln würde, die vertraulich bleiben musste. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund, Tony«, sagte sie und ließ sich schwer auf ihren Stuhl fallen. »Ich habe drei Mordfälle da draußen an der Tafel. Für etwas, bei dem es nicht um Leben oder Tod geht, habe ich keine Zeit.«
Tony hielt inne, stützte sich mit den Händen auf ihren Schreibtisch und blickte sie an. »Ich glaube, die Sache fällt auf jeden Fall in diese Kategorie«, verteidigte er sich. »Jacko Vance ist heute Vormittag aus dem Gefängnis entkommen.«
Carol war schockiert. »Was?« Die Frage war eine automatische Reaktion. Tony machte sich nicht die Mühe, sich zu wiederholen. Sie starrte ihn lange an, dann fragte sie: »Wie konnten sie zulassen, dass das passiert?«
Tony gab einen abschätzigen Laut von sich. »Vance ist eben schlauer als alle anderen in einer Abteilung Kategorie C.«
»Kategorie C? Wie ist er da hineingekommen? Er war doch als Mörder verurteilt.«
»Und der perfekte Häftling, laut Innenministerium. Er hat in all den Jahren, die er sitzt, keinen einzigen Fehler gemacht. Oder vielmehr, er hat seine Absichten so gut verschleiert, dass es so schien.« Seiner Stimme war der Zorn anzuhören, und er versuchte nicht, ihn zu unterdrücken. Wenn er nicht einmal Carol gegenüber Emotionen äußern konnte, dann gab es in seinem Leben keinen Ort, wo er sich öffnen und sein Inneres zeigen konnte. »Er war nicht nur Kategorie C, sondern in der therapeutischen Abteilung. Kannst du das glauben? Freier Umgang, Zellen wie Hotelzimmer, Gruppentherapie, die er nach Belieben beeinflussen kann, da er ja spitze im Manipulieren ist.« Er stieß sich vom Schreibtisch ab und warf sich auf einen Stuhl. »Am liebsten würde ich hier den Kopf auf deinen Tisch legen und losheulen.«
»Hat ihm denn jemand geholfen? Ist er über die Mauer geflohen?«
»Offensichtlich hatte er viel Hilfe, drinnen wie draußen. Er ist in die Rolle eines anderen Häftlings geschlüpft, der Freigang hatte. Eine dieser befristeten Bewilligungen, mit denen sie lernen sollen, sich an die Welt draußen zu gewöhnen.« Tony schlug sich auf die Oberschenkel. »Der andere Gefangene muss eingeweiht gewesen sein. Du erinnerst dich doch bestimmt noch, wie Vance mit Schwächen umgeht. Er kitzelt sie vorsichtig aus einem heraus, dann konzentriert er sich darauf und gibt den Leuten das Gefühl, er sei die vom Himmel geschickte Antwort auf ihr Problem. Er hatte bestimmt etwas anzubieten, was der andere Typ brauchte.« Wieder sprang er auf und begann, auf und ab zu gehen. Carol konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal so erregt gesehen hatte. Dann fiel es ihr ein. In einer Wohnung in Berlin. Wo ihre persönliche Sicherheit auf dem Spiel gestanden hatte. Jetzt dämmerte ihr, dass seine Erregung vielleicht die gleiche Ursache haben könnte.
»Du machst dir Sorgen um mich«, vermutete sie. »Du glaubst, dass er mich verfolgen könnte.«
Tony blieb abrupt stehen. »Natürlich sorge ich mich um dich. Ich weiß noch, was du gesagt hast. Was er dir angedroht hat an dem Abend, als du ihn verhaftet hast.«
Carol spürte einen kalten Schauer über ihren Nacken streichen. Vance’ leise zornige Worte hatten sie damals erstarren lassen. Monate danach noch waren sie in dunklen Alpträumen zu ihr zurückgekommen. Manchmal kam ihr ihre Gabe, sich genau an alles erinnern zu können, was sie gehört hatte, eher wie ein Fluch vor. »Sie werden diesen Abend bereuen«, hatte er gesagt. Die Gefahr, die von ihm
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