Vergeltung
genauso dünn. »Und wir haben noch mehr«, sagte sie.
»Leanne wohnte früher in einem Studentenwohnheim hier in Bradfield. Das gab mir eine Menge Möglichkeiten für Recherchen durch die Hintertür«, sagte Stacey.
»Das ist auch so etwas, was wir hier oft machen«, sagte Sam. »Ermitteln durch die Hintertür. Wir gehen lieber etwas raffinierter vor, statt den Leuten die Wohnungstür einzutreten.«
»Idealerweise ist es uns lieber, wenn sie gar nicht bemerken, dass wir da waren«, sagte Stacey trocken. »Unterm Strich also: Leanne ist aus Manchester. Sie hat ein Vordiplom in Französisch und Spanisch von der Bradfield University. Zurzeit war sie dabei, ihre Doktorarbeit über Die Erfindung des Selbst in den Werken von Miguel Cervantes zu schreiben. Was immer das heißt. Und sie finanzierte ihr Studium offenbar damit, dass sie sich auf den Straßen von Bradfield prostituierte.«
»Manche Leute scheuen eben vor nichts zurück, damit sie keinen Studienkredit aufnehmen müssen«, sagte Kevin finster.
»Wir können nicht alle erfolgreiche Kapitalisten sein«, meinte Stacey. »Ich habe die Adresse ihrer Eltern in Manchester. Und eine Adresse von ihr hier in Bradfield.«
Paulas Handy vibrierte, sie schaute nach und hörte nur mit halbem Ohr, was um sie vorging.
»Ausgezeichnet«, rief Carol. »Sam, Kevin – sobald DI Spencer mit euch gesprochen hat, geht ihr in ihre Wohnung und findet heraus, ob sie Mitbewohner hatte. Macht euch ein Bild von ihrem Leben.« Sie wandte sich wieder an Spencer. »Ich möchte, dass Sie jemanden zur Betreuung und als Kontaktperson zu ihren Eltern schicken und dass Sie die Nachricht von ihrem Tod persönlich überbringen. Die Leute haben es verdient, dass ein höherer Polizeibeamter kommt, sie haben schließlich eine Tochter verloren. Paula, geh zur Uni, suche den Dozenten, der sie betreut hat, und sprich mit ihm. Wir müssen wissen, wo sie mit ihrem Mörder zusammentraf, und das heißt, es gilt, die Lücken zu schließen. Leanne Considine begegnete einem Mann, der sie brutal behandelt und getötet hat. Wir müssen ihn finden, bevor er ein neues Opfer findet. Und noch eine Sache – bis jetzt haben wir vermeiden können, dass aus dem Fall ein Medienrummel entstanden ist. Lasst uns die Sache erledigen, bevor Penny Burgess und ihresgleichen über uns herfallen.«
22
K evin empfand es als bittere Ironie, dass Leanne Considines Studentenwohnung eine schäbige Bruchbude war im Vergleich zu der Wohnung, die sich Nicky Reid und Suze Black geteilt hatten. In seiner Vorstellung war es irgendwie verkehrt, dass zwei Prostituierte in einem sauberen und ordentlichen Heim wohnten, während vier Studenten in einer Wohnung hausten, die sich nur als Saustall beschreiben ließ. Die Arbeitsflächen in der Küche waren mit schmutzigen Tassen und Gläsern, Schachteln von Imbissstuben und leeren Weinflaschen übersät. Vor langer Zeit, die sich im Nebel der Geschichte verlor, hatte einmal jemand gedacht, es sei eine gute Idee, Teppichfliesen zu verlegen. Jetzt waren sie fleckig und glänzten, so abgetreten waren sie. Der Gedanke, morgens barfuß herunterzukommen, um sich eine Tasse Kaffee zu machen, ließ Kevin erschauern.
Nur Siobhan Carey war zu Hause, als sie ankamen. Kevin hatte ihr die Nachricht von Leannes Tod beigebracht und ließ sich anhand des Fotos, das Grisha ihnen gegeben hatte, ihre Identität bestätigen. Er hatte erwartet, dass sie zusammenbrechen würde. Bei jungen Frauen war das nach seiner Erfahrung meistens so. Aber obwohl sie offensichtlich schockiert und traurig war, blieb Siobhan ruhig. Kein hysterisches Benehmen, keine Ströme von Tränen, keine gegen die Wände geworfenen Gegenstände. Stattdessen simste sie ihren Mitbewohnern, die es innerhalb von einer Viertelstunde zur Wohnung zurück schafften. »Wir hatten Glück, dass wir diese Wohnung bekamen«, hatte Siobhan gesagt, während sie Tassen ausspülte und Tee für die Polizeibeamten machte. »Mit dem Rad ist es nur zehn Minuten bis zur Unibibliothek. Dort arbeiten wir meistens. So sparen wir im Winter auch Heizkosten.«
Das war die perfekte Einleitung. Hinter ihrem Rücken nickte Kevin Sam zu. Das war eine Sache für ihn. Siobhan machte den Eindruck einer jungen Frau, die sich ein bisschen zu sehr anstrengte. Ihre Klamotten waren sorgfältig aufeinander abgestimmt, ihr Haar gepflegt und das Make-up kunstvoll, denn sie wusste offenbar, dass sie sich mehr Mühe geben musste als andere Mädchen. Ihre Nase war ein bisschen zu
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