Vergeltung
Runden kam?«
Sam hatte sich nicht getäuscht, als er meinte, Siobhan wolle das Thema meiden. Jetzt schien es, dass die anderen beiden Mitbewohner genauo unwillig waren. »Ich weiß nicht genau«, sagte Jamie und schaute auf seinen Tee.
»Wir haben nicht wirklich darüber gesprochen«, fügte Tara mit zitternder Stimme und hoffnungsvollem Gesichtsausdruck hinzu. Da tat sich jetzt offensichtlich etwas Bedeutungsvolleres als nur Bedauern.
Sam schob seinen Stuhl zurück und riss damit absichtlich die Gruppe auseinander. »Das ist der größte Schwachsinn, den ich seit langem gehört habe. Und glaubt mir, ich verbringe mein Leben damit, Kriminellen zuzuhören, die mir was vorzumachen versuchen.« Ihre schockierten Gesichter schienen ihn weiter anzustacheln. »Sie wohnen anderthalb Jahre in der gleichen Wohnung mit einer Frau und wissen nicht, wie sie ihr Geld verdient, um die Rechnungen zu zahlen? Das ist Quatsch.«
Jamie nahm die Schultern zurück. »Sie haben kein Recht, so mit uns zu reden. Wir haben eine gute Freundin verloren und stehen unter Schock. Wenn mein Vater …«
»Verschonen Sie mich«, wehrte Sam sarkastisch ab. »Ihre Freundin ist gerade ermordet worden. Brutal ermordet. Ich kannte sie nicht, aber ich habe gesehen, was man mit ihr gemacht hat, und ich bin verdammt noch mal entschlossen, den Täter zu fassen und hinter Gitter zu bringen. Wenn Ihnen das egal ist, dann sagen Sie es einfach.« Er verzog den Mund zu einem Ausdruck, der bedeuten sollte: ›Mach doch, was du willst.‹ »In solchen Fällen sind die Medien verrückt danach, jemanden fertigzumachen, während man darauf wartet, bis wir jemanden verhaften.«
»Das würden Sie nicht wagen«, rief Jamie und versuchte, ruppig zu klingen, was ihm aber nicht gelang.
»Wir versuchen nur, die Erinnerung an sie zu schützen«, platzte Siobhan heraus. Die anderen beiden starrten sie an. »Es kommt früher oder später doch raus«, sagte sie emotionsgeladen. »Es ist besser, wenn wir es ihnen einfach sagen und es hinter uns bringen.«
»Sie ist als Stripperin aufgetreten«, sagte Tara matt.
»Und was dazugehört«, fügte Jamie hinzu. Sein Versuch, sich als Mann von Welt zu geben, kam nicht mal aus den Startlöchern.
»Woher wissen Sie das, Jamie?«, fragte Kevin freundlich. »Waren Sie Kunde?«
»Seien Sie doch nicht so abscheulich«, protestierte Tara. »Wir alle wissen das, weil sie es uns erzählt hat. Wir wussten, dass sie in einem Lapdance-Club oben beim Flughafen arbeitete. Zuerst versuchte sie uns einzureden, sie arbeite nur hinter der Bar, aber es war offensichtlich, dass sie viel mehr Geld hatte, als man beim Bierzapfen verdient. Einen Abend waren wir alle ziemlich betrunken, und ich fragte sie direkt, ob sie … na ja, ob sie sich für Männer auszog. Sie sagte, dass sie Lapdance machte, und gab zu, dass sie mit manchen der Männer Sex hatte. Außerhalb des Clubs, sagte sie. Sie traf sie nach Feierabend und machte es in ihren Autos.« Taras Lippe kräuselte sich unwillkürlich bei dem Gedanken.
»Das muss ein Schock für euch alle gewesen sein«, sagte Kevin leise.
Jamie schnaufte heftig. »Das kann man wohl sagen! Man denkt schließlich nicht im Traum daran, sich die Wohnung mit einer Nutte zu teilen.«
»Mit einer Sexarbeiterin«, verbesserte ihn Siobhan pedantisch. »Es war Leannes Entscheidung, und man konnte ihr nie vorwerfen, dass sie ihre Arbeit mit nach Hause brachte. Wenn sie uns nicht gesagt hätte, dass sie in einer solchen Bar arbeitete, hätten wir es nicht erfahren, durch nichts, was sie hier im Haus sagte oder tat. Nachdem der Schock vorbei war, ignorierten wir es alle. Es wurde einfach nicht darüber gesprochen. Wie ich schon sagte: Wir sind alle gut miteinander ausgekommen, aber wir waren nicht wirklich eng befreundet. Wir hatten unser eigenes Leben und unsere eigenen Freunde.«
Sam beobachtete Jamie, um zu sehen, ob es bei ihm Anzeichen einer anderen Reaktion gab. Aber die beiden anderen schienen mit Siobhans Zusammenfassung einverstanden. »Hatte sie einen Freund?«
»Sie sagte einmal, dass sie nie Männer kennenlernte«, antwortete Siobhan. »Ich weiß, das klingt komisch, aber sie sagte, die Männer bei ihrer Arbeit seien Versager und Vollidioten. Wir haben darüber gesprochen, wie schwer es ist, die Zeit zu finden, um jemanden kennenzulernen, ganz zu schweigen davon, Zeit in eine Beziehung zu investieren. Und sie sagte, sie könne sich kaum daran erinnern, dass sie je einen Typen getroffen habe, mit dem sie
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