Vergeltung
außerdem, seien wir doch ehrlich, war es vernünftiger, dass sich vier die Kosten teilten statt drei. Sie müssen sich natürlich das eine Zimmer teilen, doch wir haben die Abmachung, dass Jamie im Wohnzimmer arbeiten kann, wenn er Platz braucht.«
»Und es stört ihn nicht, der einzige Kerl zu sein in einem Haus voller Frauen?«
Siobhan schnaubte. »Wieso stören?«
Sam setzte sein einschmeichelndstes Lächeln auf. »Ich kann mir vorstellen, dass das viel mehr Vorteile bringt als Nachteile.«
Bevor Siobhan auf seine charmante Anspielung eingehen konnte, fiel mit einem Knall die Wohnungstür zu. Im Flur war ein Scheppern von Fahrrädern zu hören, dann stürmten zwei Personen in Fahrradoutfits und Regenjacken herein, noch damit beschäftigt, ihre Helme abzunehmen. Beim Hereinkommen sprachen beide zugleich, waren ganz auf Siobhan konzentriert und warfen kaum einen Blick auf die beiden unbekannten Männer am Küchentisch.
»Das ist ja schrecklich, Liebes«, sagte eine weibliche Stimme. »Bist du sicher, dass es Leanne ist?«, die Männerstimme. Beide hatten einen südenglischen Akzent wie BBC Moderatoren auf Radio 4. Alle umarmten sich und murmelten leise, dann drehten sich die Neuankömmlinge Kevin und Sam zu.
Selbst ohne die Helme sahen sich Jamie und Tara auf unheimliche Weise ähnlich. Beide groß, breitschultrig und mit schmalen Hüften, die blonden Haare zerzaust und glänzend, lange schmale Gesichter mit spitzem Kinn. Auf den ersten Blick glichen sie eher Geschwistern als einem Liebespaar. Man musste genauer hinschauen, um die wichtigen Unterschiede zu entdecken. Tara hatte braune Augen, Jamie blaue. Ihr Haar war länger und feiner, ihre Wangenknochen höher und breiter, ihr Mund breiter und voller. Siobhan stellte alle einander vor, und sie drängten sich um den kleinen Küchentisch herum. Jamie schien eher besorgt um Tara als niedergeschlagen wegen der Neuigkeit über Leanne. Von den dreien schien die Sache Tara am meisten mitzunehmen. Ihre Augen glänzten feucht vor Tränen, und sie hob immer wieder die Hand zum Mund und biss sich in die Knöchel, während Kevin ihnen möglichst wenige Einzelheiten zu Leannes Tod mitteilte.
Als alle sich beruhigt hatten, übernahm diesmal Kevin die Führung. »Natürlich müssen wir bei den Ermittlungen zu einem Mordfall zunächst einmal feststellen, wo das Opfer sich aufhielt. Wir glauben, dass Leanne vorgestern Abend starb. Können Sie sich erinnern, wann Sie sie am Dienstag zuletzt gesehen haben?«
Sie blickten einander ratlos an. Es war schwer zu sagen, ob sie sich zu erinnern bemühten oder ob sie eine Art schweigende Vereinbarung trafen. Aber was sie zu sagen hatten, zeigte kaum Zeichen geheimer Absprache. Siobhan hatte Leanne in der Mittagspause gesehen, sie hatten miteinander ein Reisgericht gegessen, dessen Verfallsdatum schon abgelaufen war und das Siobhan von der Arbeit mit nach Haus gebracht hatte. Siobhan hatte den Nachmittag damit verbracht, ein Seminar zu geben. Dann war sie bis dreiundzwanzig Uhr mit ihrem Job beschäftigt. Jamie hatte zu Hause gearbeitet, bis er um halb sechs zu Fuß zum Pub um die Ecke gegangen war, wo er bis Mitternacht arbeitete. Leanne war zu der Zeit noch zu Hause. Tara kämpfte mit den Tränen, während sie erklärte, dass sie den Nachmittag über im Callcenter gewesen war, wo sie sechs Schichten pro Woche arbeitete. Als sie abends um sieben nach Haus kam, war Leanne schon weg. Drei Freunde waren kurz nach acht mit einer Pizza vorbeigekommen, und sie hatten zu viert Bridge gespielt, bis Jamie nach Haus gekommen war. Alles durchaus realistische Alibis, die überprüft werden müssten, aber nichts enthielten, was auch nur andeutungsweise verdächtig war. Keine unsteten Augenbewegungen, keine fragwürdige Körpersprache, kein Zögern bei der Angabe von Namen und Telefonnummern.
Das war also nicht der Grund, weswegen sich Siobhan unbehaglich fühlte.
»Ich staune, dass Sie noch Zeit zum Studieren haben«, kommentierte Kevin beiläufig. »Ich sehe meine Kinder aufwachsen, und es macht mir Angst, wie schwer es für sie sein wird, das Studium zu schaffen.«
Jamie zog eine Schulter hoch. »Es ist wirklich ein Alptraum. Aber was soll man machen? Wie mein Vater immer sagt: ›Das Leben ist hart.‹ Unsere Generation lernt diese Lektion eben ein bisschen früher.«
Kevin beugte sich vor und versuchte, sie damit dazu zu bringen, dass alle verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten. »Also, was hat Leanne getan, damit sie über die
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