Vergeltung
vor Ort gebeten, mal bei ihm vorbeizugehen. Und raten Sie mal – er ist nicht da, wo er sein sollte. Niemand hat die geringste Spur von ihm gesehen, seit dem Morgen, bevor Vance ausgebüxt ist. Was ist da los, Tony?«
Tony schloss die Augen und legte die Stirn auf seine Hand. »Terry hatte eine Zwillingsschwester, Phyllis, die an Krebs im Endstadium litt. Damals machte Vance oft Krankenbesuche in Kliniken. Es war angeblich sein großes Wohltätigkeitswerk. Der wahre Grund ist allerdings viel erschreckender. Er mag es, Menschen beim Sterben zuzusehen. Es ist, als belebe ihn der Gedanke, dass sie keinerlei Kontrolle mehr haben. Aber wie die meisten Verwandten der Patienten, an deren Betten Vance saß, glaubte Terry nie, dass da etwas Unheimliches lief. Er sah Vance als einen Engel der Barmherzigkeit, der seiner Schwester den Abschied erleichterte.« Er richtete sich auf, das Erzählen gab ihm neue Energie.
»Terry hatte sich so in seine Überzeugung verrannt, dass er einfach nicht glauben konnte, dass Vance der Verbrechen schuldig war, deren er angeklagt wurde. Eine der Mordanklagen stützte sich auf Spuren von einem Werkzeug. Vance hatte eine Werkbank mit aufmontiertem Schraubstock in seinem geheimen Versteck, der auf einer Seitenfläche eine unverwechselbare Macke hatte. Und die Staatsanwaltschaft hatte den Arm eines Opfers konserviert, das vierzehn Jahre zuvor ermordet worden war; auf dem Knochen war der passende Abdruck zu erkennen. Zusammen mit all den anderen Indizienbeweisen war die offensichtliche Folgerung, dass Vance der Mörder sein musste. Und dann kam Terry Gates, sagte als Zeuge aus und schwor, er hätte vor weniger als fünf Jahren den Schraubstock aus zweiter Hand an Vance verkauft. Und dass der, dem der Schraubstock vorher gehörte, der Mörder gewesen sein muss, nicht Vance. Das untergrub die Vorwürfe gegen Vance, was den früheren Mord betraf, und das wiederum machte es fast unmöglich zu beweisen, dass Vance ein Serientäter war, da wir nur wenig Beweismaterial hatten.«
»Gates hat also tatsächlich Vance zuliebe einen Meineid geleistet?«
»Es ist schwierig, es anders auszulegen«, sagte Tony.
»Er muss seine Schwester wirklich geliebt haben.«
»Ich habe den Verdacht, zu sehr. Und nachdem sie starb, wurde Vance zu einer Art Ersatz. Wenn Terry Vance nicht beschützte, verriet er damit seine Schwester.«
Ambrose stieß ein tiefes Murren aus. »Das verstehe ich nicht. Der Typ ist ein Serienmörder, und Gates leistet einen Meineid, damit er nicht ins Gefängnis muss, weil er nett zur Schwester war? Solche Leute verursachen mir Kopfzerbrechen, Doc.«
»Mir auch, Alvin.« Er trank mit einem Zug seinen Espresso aus, blinzelte und schüttelte sich, als das Koffein seine Wirkung tat. »Gates meint offenbar immer noch, dass er Vance zu Dank verpflichtet ist.«
»Sieht so aus.«
»Sie müssen sich einen Durchsuchungsbefehl für Gates’ Wohnung geben lassen und alles überprüfen. Wenn er außerhalb des Gefängnisses Vance’ Augen, Ohren und Beine war, muss es einen Hinweis geben. Vance ist schlau, aber Gates nicht. Er hat bestimmt Spuren hinterlassen. Vance hat ihm sicherlich gesagt, er solle alle Hinweise verwischen, aber das hat garantiert nicht geklappt. Das ist der einzige Weg, wie Sie einen Anhaltspunkt finden werden.«
»Klingt nach einem guten Plan. Danke«, erwiderte Ambrose. »Sie glauben nicht, dass Gates auftauchen wird?«
Tonys auf seinen beruflichen Erfahrungen beruhendes Gespür sagte ihm mit absoluter Sicherheit, dass Terry Gates sein Haus nie wieder betreten würde. »Gates ist tot, Alvin. Oder so gut wie. Er weiß zu viel.«
»Aber wieso sollte Vance sich gegen Gates wenden, wenn er doch immer auf seiner Seite war?« Ambrose klang vernünftig, nicht kritisch.
»Gates blieb auf Vance’ Seite, weil er immer der Überzeugung anhing, dass Vance unschuldig verfolgt werde. Aber was immer Vance nun im Sinn hat, ist bestimmt nichts Schönes. Und Gates wird sich der Einsicht nicht entziehen können, dass auch er beteiligt ist. Ich glaube, wenn Gates mit dem unwiderlegbaren Beweis konfrontiert wird, dass sein Held ein Verbrecher ist, wird er sich abwenden. Und Vance ist scharfsinnig genug, das zu begreifen.« Tony zog die oberste Schublade auf und stöberte im Durcheinander herum, weil er etwas zu knabbern suchte. »Er wird ihn eher töten als dieses Risiko eingehen. Alles ist vorausberechnet.«
»Haben Sie ein Team dort?«
Tony blickte wieder aus dem Fenster. »Vor dem Haus
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